eine kompetente Gastautorin hat sich gemeldet, worüber ich mich sehr freue.
Seit vielen Jahre kenne ich Birgit Heitfeld-Rydzik, die an der Uni-Bibliothek (ULB) für die Handschriftensammlung verantwortlich ist. Ihren Beitrag veröffentliche ich mit herzlichem Dank sehr gern.
Ihr Henning Stoffers
Es ist mir immer ein großes Vergnügen, mit Hennig Stoffers über historische Dokumente im Handschriftenmagazin der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Münster zu fachsimpeln. So war er auch maßgeblich an der Informationssuche betr. den „Münster“-Fotografen Carl Pohlschmidt https://www.ulb.uni-muenster.de/sammlungen/nachlaesse/sammlung-pohlschmidt.html beteiligt, von dem in der ULB eine Fotosammlung über das kriegszerstörte Münster vorliegt, aus der Henning Stoffers manchmal Fotos präsentiert.
Interessanterweise liegt im Handschriftenmagazin auch ein neunseitiges Typoskript, das Horst Mendershausen nach dem Besuch einer Sommer-Akademie an der Universität Münster am 22. August 1947 niederschrieb. Horst Mendershausen (1911-2003) und sein bewegtes Leben sollen hier aber nicht Thema sein. Der in die USA emigrierte Wirtschaftswissenschaftler hielt sich als Mitglied des Beraterstabs von General Lucius Clay von 1946 bis 1948 im kriegszerstörten Deutschland auf.
Die Impressionen von Uni und Stadt, die er im Anschluss an seinen Münster-Aufenthalt zu Papier brachte, sind eine informative schriftliche Ergänzung zu den „Trümmer“-Fotos eines Carl Pohlschmidt. Da der Bericht sehr ausführlich und auf Englisch verfasst ist, habe ich ihn übersetzt und zitiere Teile davon.
Meine Einführung und die Textüberleitungen sind kursiv gesetzt.
Münster im Juli 2020
Birgit Heitfeld-Rydzik
Die Sommer-Akademie an der Uni Münster fand vom 6. bis 21. August 1947 statt. Organisiert wurde die Tagung mit ca. 300 Teilnehmern vom University Education Control Officer H. J. Walker Perraudin. Eingeladen waren deutsche und ausländische Studierende und Wissenschaftler, die zusammen in einem Gebäude untergebracht wurden, das Mendershausen als „Bolomaeum“ bezeichnete, ein „Gästehaus“ der Katholischen Kirche:
„ein intaktes Gebäude in einer Ruinenlandschaft, alle Fenster drin, fließendes kaltes Wasser. Abgesehen von der Tatsache, dass es keine frische Bettwäsche gab als ich einzog, und dass das Badezimmer während meines ganzen Aufenthaltes ständig abgeschlossen war, gab es wenig Grund zu Beschwerden. Einer der Schweizer und ich kämpften auf verlorenem Posten gegen die Schwestern, die trotz intensiver Tageshitze nachts alle Fenster geschlossen hielten. Das waren nur Kleinigkeiten.“
im Vergleich zur normalen Unterbringung der Studierenden im Jahr 1947:
„Von 3800 Studenten, die an der Universität Münster eingeschrieben sind, haben nur 1000 ein eigenes Zimmer. Die Stadt ist eine der zerstörtesten, die man heutzutage in Deutschland finden kann. Ca. 2/3 der Gebäude sind vernichtet, während die Bevölkerung nur etwa 1/3 weniger ist als vor der Katastrophe. 100 männliche Studenten leben in einem Luftschutzbunker, einem Ziegel- und Zement-Verlies, das am Stadtrand gebaut wurde, mit schmalen fensterlosen Zellen, die jeweils 2 Betten, einen Schrank und 2 Stühle enthalten, umgeben von einer mächtigen Hülle gegen Bombentreffer. Die Korridore sind belüftet, die Zellen nicht. Die Beleuchtung ist ärmlich, da die Glühbirnen ständig verschwinden. Zur Sicherheit werden sie von Bewohnern rein- und rausgeschraubt. Das gilt auch für die Bettdecken. Nur wenige besitzen Bettlaken. … Achtzig Frauen leben in hölzernen Armeebaracken in einiger Entfernung zur Stadt und pendeln jeden Tag. […] In der Winterzeit, so erzählte man mir, bitten Studenten jede Nacht in der Universitätsklinik um Erlaubnis, die freien Kinderbetten zu nutzen, die nur während des Tages für Liegekuren benötigt werden.“
Die Verpflegungssituation war schwierig. In der Mensa bekamen Studenten nur eine dünne Suppe von ca. 200 bis 300 Kalorien, diese allerdings - laut Mendershausen - ohne Abgabe von Lebensmittelmarken.
„Eintausendzweihundert Studenten kaufen ein zusätzliches Mittagessen und geben dafür 1/3 ihrer täglichen Bezugsscheine für Kartoffeln und Fett aus. Das Mittagessen besteht aus Kartoffeln und Gemüse, die Studenten essen in zwei kleinen Räumen im Keller des Landgerichts, die die Universität angemietet hat, unter der Bedingung, dass die Mensa auch einige Gerichtsangestellte beköstigt. In den Räumen können etwa 80 Personen an sauberen Holztischen essen. Essenszeit ist von 11 bis 1.30 Uhr. Um 1200 Personen in 150 Minuten zu beköstigen, dürfen die Stühle nur für jeweils 10 Minuten belegt werden. Platzanweiser sorgen dafür, dass die Kunden ihre Zeit nicht überziehen. Das Essen wird im Erdgeschoss gekocht und in großen Kesseln in einen kleinen Kellerraum getragen, wo es auf Heizplatten heiß gehalten wird. Der Abwasch für die 1200 wird in einem normal großen Waschbecken erledigt.“
Das Essen im Speisesaal des katholischen Gästehauses war dagegen regelrechter Luxus:
„Aber aufgetischt wurde ein Angebot, das die Studenten „prima“ nannten, „wie in Friedenszeiten“ oder mit anderen Worten lobten. Sie gaben dafür ihre sämtlichen Essensmarken ab. Das Frühstück bestand aus Schwarzbrot, Tomaten und Kaffee (nicht der Brasilianische sondern der, den die Berliner Muckefuck nennen). Zum Mittagessen gab es eine gehaltvolle Suppe mit Kartoffeln, Gemüse, Gerste, Nudeln, kleinen Fleischstückchen, - ein vegetarisches Gericht, Kartoffeln, gelegentlich einen Fleischklops – und einen Pudding zum Dessert. Zum Abendessen gab es wieder Suppe, Gemüse, heißen Tee mit ein bisschen Milch. Das Essen schmeckte recht gut. […] Getränke zum Mittagessen waren ein großes Problem. Es wurden keine serviert. Unsere britischen Gastgeber und die deutschen Führer warnten uns vor dem Trinken von Wasser. Es gab viele Typhusfälle in der Stadt und dem Umland. Abgekochtes Wasser war nicht zu bekommen. Für gewöhnlich trinken die Deutschen nichts zum Mittagessen und sogar in den Kantinen der U.S. Armee muss man öfter darauf bestehen, dass der Kellner ein Glas Wasser bringt. (Einer meiner Freunde schlug vor, dass der Friedensvertrag mit Deutschland eine Klausel enthalten solle, die Kellner dazu verpflichtet, mit jeder Mahlzeit, die von einem Amerikaner oder Deutschen bestellt wird, ein Glas Wasser zu servieren). Die Hitze draußen, in den Vorlesungsräumen und im Speisesaal war so groß, dass selbst die deutschen Studenten Getränke brauchten. Wir schlugen die Warnungen in den Wind und ließen eine Wasserflasche am Tisch rundgehen.“
Was wohl zu keinen größeren Schäden führte, denn Mendershausen besuchte und hielt Vorlesungen:
„Die Vorlesungen mussten in den Laboren abgehalten werden und in den Räumlichkeiten ehemaliger Kliniken am Stadtrand. Die Hauptgebäude der Universität sind zerstört ebenso wie der komplette Stadtkern, das wunderschöne alte Rathaus, der Dom etc. Ausgehend vom Speisesaal des Bolomaeums [!] wanderten wir durch halbgeräumte Straßen mit nichts als Trümmern zu beiden Seiten, vorbei an ungesund stinkenden Teichen, die sich in großen Bombenkratern gebildet hatten, staksten über zertrümmerte Mauern und durch vereinzelt stehengebliebene Türrahmen auf Trampelpfaden, die sich durch die Trümmerberge zogen. Die Zerstörung ist dicht mit Unkraut überwuchert. Nach drei Jahren ungestörten Wachstums auf fruchtbarem Boden und Trümmern und Asche ist alles erstaunlich hochgewachsen. Büsche von einem oder anderthalb Metern Höhe sind keine Seltenheit. Sie geben der Landschaft einen Hauch von hellem Grün in den ansonsten dominierenden Farben: Helles Rot und ein trübes Beige.
Mendershausen informierte sich auch über Trümmerbeseitigung und den Arbeitsdienst der Studierenden:
„Will man etwas gegen diese Einöde tun, muss man enorme Massen von Trümmern beseitigen. Bis jetzt hat die Trümmerbeseitigung wohl schon stundenlange Schwerarbeit gekostet, die Ergebnisse wirken unbedeutend. Die Stadtväter haben der Universität die Ruine des Stadtschlosses angeboten, eine riesige, entkernte Struktur bestehend aus Wänden und Fensteröffnungen. Studenten arbeiten bereits seit Monaten daran, Wände niederzubrechen, die Trümmer auf Wagen zu schippen und diese zu einem zentralen Sammelplatz zu schieben, wo in die Loren eines Schmalspur-Diesel-Zuges umgeladen und das Zeug aus dem Weg geschafft wird.
Vor der Studienzulassung hat jeder männliche Student drei Monate bei der Räumung mitzuarbeiten. Außerdem muss jeder Student in jedem Semester sechs Arbeitstage beisteuern. (Die Mädels werden in der Universitätsverwaltung und in den Laboren eingesetzt). Ich sprach mit einer Gruppe von Studenten, die dort arbeiteten und fotografierte sie. [...] Sie sind bei einer Baufirma angestellt, die ihnen reguläre Löhne zahlt. Der Wiederaufbau soll in 5 Jahren abgeschlossen sein; aber niemand rechnet mit weniger als 10 Jahren. […]
Der Wiederaufbau des Studentenheims ist schon weiter fortgeschritten, die Materialzuweisungen sind allerdings gekürzt, für das dritte Vierteljahr 1947 wurde gar kein Baumaterial zugewiesen. Der Prorektor der Universität nahm sich am Montag frei und fuhr zu einer Zementfabrik und zu einem Bauhof um Installationsmaterial zu organisieren. Er bekam das Material im Tausch gegen Alkohol und andere Dinge, die von Fabrikanten und Unterstützern der Universität gespendet wurden. Dienstagabend, während fünf von uns in seinem Haus die deutsche Wirtschaft und die Weltpolitik diskutierten, waren seine Ehefrau und sein Chauffeur unterwegs, um Dünger für die Kartoffelernte für die Mensa zu besorgen. Gegen 22 Uhr beendete ein Gewitter die große Hitze; aber wir hatten es nicht lange genossen, da ging der Professor in seinen Keller um nach seinem eigenen Kartoffel-Lager zu sehen. Es war überschwemmt. Münsters Abwassersystem kann nicht so viel Regenwasser aufnehmen. Als ich in dieser Nacht nach Hause ging, waren die holprigen Straßen eine Landschaft von Seen und Inseln. […]
Die Verhältnisse von Studenten und Universität spiegeln den generellen Zustand der Dinge. Es gibt kaum Anreize, Geld zu verdienen. Weniger als 3% der Studenten haben eine bezahlte Arbeit. 50% leben von den Ersparnissen aus Kriegszeiten. Ein großes ökonomisches Problem besteht darin, Waren zum Tausch und für den Eigengebrauch zu bekommen. Bibliotheksbücher, Stromschalter und Glühbirnen, Laborgerätschaften verschwinden, z.T. um eingetauscht zu werden. Leben auf dem Lande ist von größter Bedeutung. 1600 von 3800 Studenten leben in den umgebenden Dörfern, zum Teil wegen mangelnder Unterkunftsmöglichkeiten in Münster, aber auch wegen der besseren Lebensmittelversorgung. Die Universität hat andererseits die Polizei veranlasst, den Studenten das gesetzwidrige Schlagen von Feuer- und Bauholz für das Studentenheim zu erlauben.“
Und wie war die Stimmung in diesen schwierigen Zeiten, in denen fast alle mit Überleben und Wiederaufbau beschäftigt waren?
„Nach den Vorlesungen und während der Mahlzeiten kamen viele Studenten und Assistenten um mit mir zu reden. Sie näherten sich respektvoll, und ihre Rede floss über von „Herr Professor“ und „würden Sie mir erlauben“ und Ähnlichem. Sie waren sehr ernst und entspannten sich nicht so leicht. Ein Thema, dass etliche Jungs ohne Zurückhaltung diskutierten, war Anbau und Ernte von Tabak. Sie schienen in alle Geheimnisse von „Rösten und Rauchen“ eingeweiht und hatten Spaß, darüber zu reden. Ich bekam ein paar Proben ihrer Zigarettenproduktion und fand diese sehr respektabel.
Die meisten Jungs brachten zwei Themen zur Sprache: 1. wie komme ich in die Vereinigten Staaten; 2. Amerika klingt gut, aber hier können die Dinge nicht so gut gemacht werden. Sie hatten Verwandte in den Staaten; sie wollten dorthin reisen; sie fragten nach den Berufschancen für Ingenieure, Ärzte, Spezialisten für slawische Sprachen. Ich konnte ihnen keine große Hoffnung auf Einwanderung machen und bestand darauf, dass sie über ihre Zukunft in Deutschland nachdenken.“
Quellen
Typoskript: Horst Mendershausen
Bearbeitung/Übersetzung aus dem Amerikanischen: Birgit Heitfeld-Rydzik
Redaktion: Henning Stoffers