24.9.2021
über die Geschichte der münsterschen Kinos der Nachkriegsjahre ist bisher nur wenig veröffentlicht worden. Nun erinnert Friedrich Schumacher als Kino-Insider mit diesem Beitrag an die Jahre 1955 bis 1970. Seine hautnahes Erleben vermittelt interessante Einblicke in einen stiefmütterlich behandelten Bereich unserer Kulturgeschichte.
Ich danke herzlich für seine Bereitschaft, darüber zu berichten.
Ihr Henning Stoffers
PS
1948 wurde ich in Münster geboren und wuchs dort auf, fünf Minuten entfernt vom Filmstudio Gertrudenhof, Warendorfer Straße 97, Ecke Kaiser-Wilhelm-Ring, seit 1967 betonbebaut. Als Schüler der Mauritz-Volksschule konnte ich meinen Lesefortschritt vom Schulhof aus durch den Torbogen des Finanzgerichts am Programmanzeiger überm Kinoeingang testen. Einer der ersten Leseerfolge war „ . . . in alle Ewigkeit“. Später erfuhr ich, dass ‚Verdammt‘ ein Wort war, das man in Münster nicht öffentlich schreiben durfte.
Das Kinogeschehen habe ich zum Schrecken meiner Eltern begeistert beobachtet. So früh wie möglich und erlaubt machte ich in der Landesbildstelle (LWL) meinen Vorführschein für 16 mm Schmalfilm. Den benötigte ich, um im Mauritz Jugendheim Filme vorführen zu dürfen, allerdings eigentlich erst ab dem 16. Lebensjahr…
Gelegentliche Kinobesuche im fast nachbarlichen Gertrudenhof und die ernsthafte Beschäftigung mit anspruchsvollen Filmkritiken machten mich zum Kino-/Filmbegeisterten. Schmalfilm war gut und schön, aber richtiges Kino mit 35 oder 70 mm Film waren etwas ganz anderes.
Als ich um 1957 im Gertrudenhof-Gebäude zu tun hatte, kam ich an der offenen Vorführraumtür vorbei. Der damalige Filmvorführer Edmund Jutta machte meine Bitte, seinen Vorführraum anzusehen, von der Genehmigung seiner Chefin, Josefa Eckelkamp (1890-1977), abhängig. Diese fragte mich nach meinen Eltern - die sie kannte, und gestattete mir das. Seitdem hielt ich nach Herrn Jutta Ausschau, wenn der vorm Kino in seinem weißen Kittel frische Luft schnappte - und den ich dann begeistert grüßend daran erinnerte, dass wir uns kennen!
Ich war und bin kinoverrückt, vielleicht weil Münster eine beachtliche Kinotradition hatte - mit fortschrittlichen Technikausstattungen, innovativ und sogar Großstädten ebenbürtig. Ab Mitte der 60er Jahre habe ich in fast allen Kinos aushilfsweise gearbeitet - als Filmvorführer, Platzanweiser, Programmgestalter, bis zu meinem Wegzug nach Düsseldorf Anfang der 70er Jahre.
In Münster gab es in den 60er/70er Jahren zwei technisch großartig ausgestattete, perfekt gepflegte Kinos:
Im Gertrudenhof (715 Plätze) hatte der Saal ein beachtliches Gefälle, Schröder und Henzelmann Cordflachpolster Einbeinstühle im Parkett, die V-förmig angeordnet waren, so dass jeder Besucher zwei eigene Armstützen und optimale Beinfreiheit hatte. Warum diese analbequemen Sitze nie zum Weltstandard wurden, kann ich nicht begreifen.
Der Kinosaal war eine massive Holzbaracke mit exzellenter Akustik, zur Straße ummauert zur perfekten Schallisolation gegen den Straßenkrach an der lauten Kreuzung (Architekt - übrigens auch der des Schloss- und des Rolandtheaters war der vor allem für Sakralbauten bekannte Hans Ostermann von der Kapitelstraße).
Hanns Eckelkamp (1927-2021) - sein Vater (1887-1960) schrieb sich mit einem n - wurde in den 60er Jahren mit seinem Duisburger atlas Filmverleih europaweit bekannt. Als Kapitalanlage hatten Eckelkamps übrigens im Nachkriegs-Duisburg mehrere Kinos gebaut. Die technisch und optisch luxuriösen Filmtheater im Europa-Haus mit 1.190 und 351 Plätzen eröffneten 1954.
In Münster arbeiteten als Theaterleiter bei Eckelkamps nach ihrer Ausbildung in der Duisburger Zentrale nachmals in der Branche berühmt gewordene Persönlichkeiten wie Gerd Politt, später u. a. Kinofest Lünen und Franz Stadler (1940-2017), dessen Kino Filmkunst 66 in Berlin jahrelang Pionierarbeit auf dem Sektor Filmkunst- und Programmkino-Entdeckungen bot.
Gertrudenhof und Metropol spielten zwecks Kosteneinsparung gemeinsam eine Wochenschau, die zwischen den Kinos per Fahrrad gependelt wurde. Deshalb starteten die Vorstellungen im Gertrudenhof 15 Minuten später als in allen anderen Kinos der Stadt. Im Metropol wurde die Wochenschau in der 2. Vorstellung nach dem Hauptfilm gespielt, um eine Pendeltour zu sparen. Zu Zeiten, als es (fast) noch kein Fernsehen gab, legten Zuschauer großen Wert auf diese plump manipulierten Wochenschauen.
Das Filmstudio Gertrudenhof bot sonntags um 11 Uhr Matineevorstellungen mit Reise-, Kinder- oder sogar Opernfilmen. Diese waren besonders beeindruckend, da es sich um abgefilmte Aufzeichnungen weltberühmter Opernhäuser mit Weltniveau-Sängern und -Orchestern handelte (Karajan aufwärts). Und sie waren sogar in Farbe, CinemaScope und mit vier Kanal Stereomagnetton, zu einer Zeit, als es kein Farbfernsehen gab und Radios nur mono tönten. Bis heute habe ich diese großartigen alten Filme nicht als DVD oder Blu-ray wiedergefunden.
Der Gertrudenhof brachte donnerstagsabends ein Ausleseprogramm mit Filmen, die zuvor im Normalprogramm gelaufen waren oder tagesaktuell bzw. auf Zuschauerwunsch noch einmal angeboten wurden. Diese Programme hatten ermäßigte Eintrittspreise, das Vorprogramm war gekürzt, die Wochenschau wurde weggelassen. Auf diese Weise konnte ich großartige Filme sehen, zu denen ich Jahre vorher altersbedingt noch keinen Zugang hatte.
Einmal im Monat gab es an diesem Donnerstagabend die zusammen mit der katholischen Kirche angebotene Reihe „Jugend und Film“. Zu den Veranstaltungen bot Kaplan Diekmann eine Einführung und im Anschluss ein Publikumsgespräch. Die Veranstaltungen waren wegen des günstigen Eintrittspreises und der Möglichkeit, dem Elternhaus bis lange nach 22 Uhr zu entkommen, äußerst beliebt und regelmäßig ausverkauft. Besonders im Sommer erfreuten sich die umliegenden Parks und Grünanlagen mitmenschlicher Nutzungsmöglichkeiten. Einige Jugendliche gingen gar nicht erst ins Kino, kauften sich aber Eintrittskarten und vergaßen zuweilen, den Kontrollabschnitt abzureißen und daher fiel es zuhause manchmal auf, dass sie gar nicht im Kino waren. So erklärte es sich, dass die 715 Plätze ausverkauft, viele Jugendliche keine Karte mehr bekommen konnten und erstaunlicherweise zum Filmbeginn immer noch einige Plätze unbesetzt waren. Frau Eckelkamp hatte ein Herz für volle Kassen und ließ dann an die Leerausgegangenen noch Karten verkaufen, bis kein Sitz mehr leer war. So kamen schon mal 780 verkaufte Karten im 715 Platz Kino zustande. Folgenschwerer waren neunmonatige Spätfolgen . . .
Die Reihe Jugend und Film hatte einen ganz besonderen Knüller, als 1964 der erste Beatles Film Yeah! Yeah! Yeah! = A Hard Day’s Night herauskam. Der war zwar bereits im Apollo Kino einige Wochen lang erfolgreich in Münster gelaufen, aber als er dann Monate später in Jugend und Film wieder kam, waren die Eintrittskarten schon nachmittags ausverkauft; spontan wurde eine Wiederholung am Samstagvormittag angesetzt, die ebenso ausverkauft war. Filmvorführer Jutta ließ die Musiktitel über die 24 Effekttonlautsprecher laufen, was die Zuschauer völlig aus dem Häuschen brachte. Damals hatte kaum jemand Stereoplattenspieler oder gar HiFi-Anlagen.
Im Apollo Kino startete Donnerstagsabends die „Action-Auslese“. Um 20:00 und um 22:30 Uhr waren die Vorstellungen auch dort in der Regel ausverkauft. Schwerpunkt des Programms waren seichte Actionfilme a la „Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe“, „Tanz der Vampire“, Italo Western usw. . Viele Titel wurden wiederholt, weil dort ein Mitmachkult und die Freude an der Wiederkehr des ewig Gleichen zusammen mit Freunden und -Innen Vorrang hatten. Das muffelige enge Ambiente, unbequeme Bestuhlung, die mäßige Tontechnik und die viel zu kleine Bildwand taten dem keinen Abbruch.
Ganz besondere Kinoerlebnisse bot der Fürstenhof schräg gegenüber vom Apollo mit allerfeinster Technik in Bild und Ton, inzwischen leider längst geschlossen. 1959 mit dem dreistreifigen Cinemiracle-Film „Windjammer“ als Zweckneubau eröffnete Saal hatte 900 Plätze und eine imponierend große, gekrümmte Bildwand (17 x 7,3 m) und Bogenlampen im Filmprojektor mit rotierender Pluskohle 80 A. Wer in diesem Traumkino von Weltstadtniveau noch 70mm-Filme genießen durfte, wird das nicht vergessen: „Porgy und Bess“, „Spartacus“, „Cleopatra“, „My Fair Lady“, „2001 Odyssee im Weltraum“, „West Side Story“, „Grand Prix“, „Tollkühne Männer in ihren fliegenden Kisten“…
Und dann tat sich am Kinostandort Münster etwas: Exberufssoldat Heiner Pier (1939-2011) träumte vom eigenen Kino und hatte den Mut, sich gegen die damals vier großen Kinokonkurrenten im Dezember 1968 mit einem Zimmerkino (58 Plätze) in der Winkelstraße „neben der Schauburg“ durchzusetzen. Mit seinem damaligen Partner Michael Föllen (1945-1996) war das harter Wettbewerbskampf, denn die Filmverleiher rückten unter Druck der Alteingesessenen mit ihren zehn Kinos nur widerwillig Filme heraus. Aber genau zu der Zeit gab es Kleinverleiher, die mit Nischentiteln auch in anderen Städten neue Filmkultur ans Publikum zu bringen schafften.
Immerhin gelang es 1968 dem uralten Blauen Engel Marlene Dietrich von 1930 einige Wochen lang den kleinen „Laden“ zu füllen. Um es kurz zu machen: die Kunst des Kinomachens war inzwischen eine Kunst der Nischenprodukte und ihrer Entdeckungen geworden. 1972 sprachen dem Außenseiter Pier dort 50.000 Besucher zu; der Spiegel berichtete darüber.
Bereits vor der Kurbelkiste hatten Pier/Föllen den Neuen Krug an der Weseler Straße übernommen, den sie vom trostlosen Vorstadt-Abspielkino zum Programmkino aufwerteten als Cinema Neuer Krug.
Freitags (damals Programmwechseltag) erschienen in Münsters Tageszeitungen Bildanzeigen der Kinos und samstags Filmkritiken. In Zeitungsarchiven lassen sich die Programmvielfalt und Einfallsreichtum (bzw. das Gegenteil) der damaligen münsterischen Kinolandschaft aufspüren.
Andere damals in Münster noch existierende Kinos waren: