dem Menschen, über den ich diesmal schreibe, möchte ich sehr gern das Attribut ,merkwürdig' zuordnen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: würdig zu merken.
Nun habe ich Manfred Schneider kennengelernt und freue mich, über ihn berichten zu können.
Ihr Henning Stoffers
Bei einem meiner Vorträge fiel mir Manfred Schneider durch sein Outfit besonders auf: dunkle Kleidung, Fliege, Goldbrille und Baskenmütze.
Wir kamen ins Gespräch, und einige Tage später besuchte ich ihn in seiner Wohnung. Zimmerhohe Buchwände verraten sein Faible: Das Lesen. Seit seiner Jugend - animiert von seinem Großvater - spielt das Buch eine wichtige Rolle. Und als Buchliebhaber wählte er den naheliegenden Beruf des Buchhändlers. Seit 1962 war er in der traditionsreichen Buchhandlung Poertgen-Herder tätig und hat sie mitgeprägt. Und er kann so viel erzählen...
Manfred Schneider kam 1941 in Uckerath (zwischen Siebengebirge und Westerwald) auf die Welt, einer Welt, die aus den Fugen geraten war. Sein Vater, ein Kölner, ist an der Front seit Februar 1945 vermisst. Die schwangere Mutter war aus dem bombengefährdeten Köln hierher an die Sieg evakuiert worden.
Als die elterliche Wohnung in Köln durch Bomben zerstört war, ging die Mutter mit ihm in ihre alte Heimat Schlesien zurück. Sie sagte: ,Dort ist es zurzeit ganz ruhig!'.
1946 wurden sie dort vertrieben, und so zogen Mutter und Sohn wieder nach Köln.
Nach der Gymnasialzeit brachte das Jahr 1958 für Manfred Schneider eine Weichenstellung, die sein künftiges Leben bis heute bestimmen sollte. Er hatte sich aus Neigung für den Beruf des Buchhändlers entschieden und ging nach Freiburg, machte dort sein Fachabitur und absolvierte ein Volontariat im bekannten Verlag Herder. Seine Ausbildung zum Buchhändler umfasste auch Praktika in der Buchherstellung, also Setzerei, Druckerei und Buchbinderei.
Nebenbei gab es ein privates Musikstudium in Harmonielehre, Kontrapunkt und Musiktheorie sowie autodidaktische Übungen an der Orgel.
Nach der mit Diplom bestandenen Lehre sollte er einen größeren Teilbereich in der Werbeabteilung des Verlages übernehmen. Zuvor wünschte Manfred Schneider den hautnahen Kontakt mit dem lesenden Publikum und machte 1962 Station in Münster, und zwar in der Buchhandlung Poertgen-Herder. Obwohl Münster nur als eine kurze Schnupperstation geplant war, blieb er hier ,hängen' und schlug Wurzeln; er war von der Stadt Münster fasziniert. Gern bezeichnet er sich als ,Münsteraner mit Kölner Migrationshintergrund',
1975 Heirat mit seiner Kollegin Karin Seidel, zwei Kinder und sieben Enkel. 1998 Eintritt in den Ruhestand aus gesundheitlichen Gründen.
Mitgliedschaft und Vorstand der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, über 40 Jahre ehrenamtlicher Organist im Clemenshospital, Sänger in der Chorgemeinschaft St. Lamberti, Mitglied im Pfarrgemeinderat St. Lamberti, jahrelange Betreuung einer demenzerkrankten Kollegin, Vortragstätigkeit mit jüdischem Themen, Demonstrationskonzerte mit synagogaler Musik, im Historienspiel Darsteller des Päpstlichen Gesandten Fabio Chigi, Mitglied in der Vereinigung Niederdeutsches Münster Durchführung mit über 50 landeskundlicher Exkursionen als 'Reisemarschall', Titel ,Städtischer Glockenspieler e.h..'.
Träger der Münster-Nadel und des Silbernen Rathauses.
Was war das wichtigste Ereignis in Ihrem Leben? (Die Antwort kam spontan.)
Das Kennenlernen meiner Frau Karin. Ich war damals schon Mitte 30 und hatte sie zunächst gar nicht so recht wahrgenommen. Doch dann bei einem Gartenfest leuchteten in der untergehenden Sonne ihre rotgoldenen Haare. Da hatte es bei mir ,gefunkt'.
Das schlimmste Erlebnis?
Ich bin ein positiv denkender Mensch. 1995 erkrankte ich an der Auto-Immunschwäche ,Morbus Wegener', die meine einzige Niere schädigte und die Motorik der unteren Gliedmaßen auch heute beeinträchtigt. Durch ärztliche Hilfe konnte die Dialyse durch Medikamente über Jahre hinaus geschoben werden. Inzwischen muss ich an drei Tage der Woche zur Dialyse. Ich sehe die Krankheit als Teil meines Lebensplanes. Meine positive Lebenseinstellung hat sich dadurch nicht geändert.
Abneigungen?
Es fallen mir keine Abneigungen ein...
War es ein Problem, krankheitsbedingt aus dem Berufsleben auszusteigen?
Nicht so sehr, wie ich zunächst befürchtete. Es bestanden und es bestehen so viele geistige Herausforderungen, so dass der Ausstieg nicht so schwer fiel. Die umfangreichen ehrenamtlichen Arbeiten beim Niederdeutschen Münster und bei den vielen, vielen anderen Aktivitäten ließen keine unerfüllten Lebensräume entstehen. Die vielen positiven Erinnerungen sind es, die ein Teil meiner Lebensqualität ausmachen.
Ihre Lieblingsspeise?
Leider gibt's ihn nur sehr selten: Rheinischer Sauerbraten mit Rosinensauce. – Ungern: Saurer Hering oder Rollmops.
Wie war das mit dem Glockenspiel?
Besondere Freude machte mir das Glockenspiel im Stadthausturm. Als es 2001 gestiftet wurde, habe ich es musikalisch installiert und fürs tägliche Abspielen programmiert. Bis 2016 habe ich als ,Städtischer Glockenspieler' - diesen Titel hatte mir der Oberbürgermeister Dr. Tillmann verliehen - zahlreiche Live-Konzerte gespielt, und zwar zu bestimmten und auch zu besonderen Anlässen, beispielsweise 1. Mai, Lambertus, Westfälischer Frieden oder Weihnachten. Dieses Amt habe ich sehr gern über 15 Jahre ausgeübt.
Haben Sie Wünsche?
Im Gesundheitsbereich möge der jetzige ,status quo' erhalten bleiben. Die Dialyse gehört zu meinem Alltag.
Was können Sie über Ihren Beruf erzählen?
Ich hatte das große Glück, einen kommunikativen Beruf auszuüben und sah mich in der Rolle eines Multiplikators, der den Gedankenaustausch der Menschen fördert. Die Aufgabe habe ich gern und mit Herzblut erfüllt.
Eigentlich sollte ich in einem großen Verlag mit einer Bürotätigkeit Karriere machen, der Weg war bereitet. Stattdessen habe ich mir die abwechslungsreiche Tätigkeit im direkten Kontakt mit Menschen in einer Buchhandlung ausgesucht: Poertgen-Herder in Münster! Ich habe diese Entscheidung nie bereut.
Münster ist eine sehr individuelle Stadt mit einem großen kulturellen Angebot. Eine kleine Großstadt mit allen Vorzügen und ohne deren Nachteile, eine Metropole mit großem Hinterland, rundum: ein Ort zum Wohlfühlen.
Wie war es damals bei Poertgen?
Man glaubt es kaum. Als ich 1962 bei Poertgen anfing, lagen als Dekoration ein aufgeschlagenes Altarmessbuch, ein handgeschnitzter Rosenkranz und ein Terrakotta-Jesuskind im Schaufenster. Die Buchhandlung hatte den Status einer katholischen Bücherstube - und war damit ganz den Bedürfnissen des damaligen Publikums angepasst.
Der kleine Buchladen lag eingezwängt zwischen zwei Häusern. Über die Jahre wurde ein durchdachtes Konzept mit Um- und Ausbaumaßnahmen entwickelt, das zur jetzigen Größe und Bedeutung führte. Den gestiegenen Ansprüchen des Publikums konnte man so gerecht werden. Und die Lage in der Salzstraße ist natürlich bestens.
Welche Persönlichkeit hat Sie besonders beeindruckt?
Da waren zunächst meine Kunden aus Universität und Schule, aus Kirche und Verwaltung (z. B. waren Professor Josef Pieper, die jeweiligen Oberbürgermeister oder Angehörige des höheren Klerus meine Kunden).
Zum anderen hatten wir bei unseren Veranstaltungen viele Gäste aus Literatur und Wissenschaft; einige Namen sollten genannt werden: Albrecht Goes, Gertrud von le Fort, Horst-Eberhard Richter, Henning Scherf, Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Gerhard Zwerenz, Paul Schallück, Werner Schneyder, Norbert Blüm, Hellmuth Karasek, Jurek Becker, Heribert Prantl. Oder aus der bildenden Kunst Otto Rohse mit seinen feinen Kupferstichen oder HAP Grieshaber mit seinen plakativen Holzschnitten oder auch Ernst Fuchs mit seinem Phantastischem Realismus der Wiener Schule. Wie man sieht, eine bunt gemischte Aufzählung. Bei Poertgen-Herder gibt es ein Gästebuch mit sehr interessanten Eintragungen.
Eine besonders intensive Begegnung hatte ich mit Günter Grass. Ich konnte ihm sogar für sein Buch ,Das Treffen in Telgte' bei der Recherche behilflich sein, hatte ihn dort für einige Zeit in der ,Waldhütte' untergebracht und Kontakte zu Bibliotheken und Archiven hergestellt. Noch vor Erscheinen des Buches hatte ich in der Aula eines Gymnasiums eine ,Werkstatt-Lesung' organisiert. Dort wurde er von einigen Studenten ausgebuht, die wohl enttäuscht waren, dass Grass auf die damaligen politischen Zustände mit einem solch ,harmlosen' poetischen Text, für den er sogar eine besondere Sprache geschaffen hatte, reagierte. Grass focht dieses kontoverse Diskussion nach der Lesung nicht an. Er freute sich vielmehr auf die gefüllte Bauern-Ente, die im Backofen der ,Waldhütte' auf uns wartete.
Ein Wort zum Lebensende?
Wie die Geburt als Anfang des Lebens gehört auch das Ende zum Lauf der Dinge. Das ist so leicht dahin gesagt, wenn man so nebenbei danach gefragt wird. Der Tod ist unausweichlich - ein anderes Ding ist das Sterben mit einem möglicherweise langem Siechtum...
Mit Manfred Schneider sich zu unterhalten, ist ein wahres Vergnügen. Seine Gedankengänge sprudeln, wohl überlegt, nur so aus ihm heraus.
Manfred Schneider ist sehr zufrieden, wenn er im Rahmen seiner Möglichkeiten weiterhin aktiv und kreativ sein kann.
Ich habe mich über dieses Kennenlernen sehr gefreut und danke Hans-Peter Boer, der bei der Weichenstellung des Kontaktes hilfreich war.
Am 18.8.2020 ist Manfred Schneider verstorben.
R.I.P.
Quellen
Text und Idee: Henning Stoffers
Fotos: Henning Stoffers, sofern nicht anders angegeben