Im Dezember 2018
Liselotte Folkerts lernte ich vor einigen Jahren kennen. Sie hatte in der Zeitung ein altes Einwohnerbuch angeboten, das mir in meiner Münster-Bibliothek noch fehlte. Ihr Name und ihr Wirken waren mir bekannt, und so war ich neugierig, sie persönlich kennenzulernen.
Ihren Kindheitserinnerungen, den Kriegs- und Nachkriegsjahren und den Anfänge in Münster sind in diesem Beitrag umfänglich aufgenommen worden. Es präsentiert sich ein typisches Lebensschicksal jener Generation.
Ihr Henning Stoffers
Vor mir sitzt Liselotte Folkerts - zierlich, freundlich zugewandt und mit wachem Blick. Sie möge über ihre Herkunft, ihre Kindheit, die Schulzeit und über ihr Leben erzählen, bat ich sie. Die Erinnerungen sprudelten nur so aus ihr heraus, als sei ein Damm gebrochen. Ich konnte gar nicht schnell genug meine Notizen machen, um alles aufzunehmen.
Liselotte Folkerts lebt - wie kann es anders sein - in Münsters altem Dichterviertel. 2019 vollendet sie ihr 90. Lebensjahr.
Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Liselotte (geboren 1929) in der Piusalle. Die damals noch dreiköpfige Familie wohnte im 5. Obergeschoss mit all den Unannehmlichkeiten der damit verbundenen Plackerei über die vielen Etagen hinweg. Für die Mutter Paula wurde dies zu viel, und so zog die Familie zum Hohen Heckenweg. In der neuen Umgebung fühlte sich der Vater besonders wohl, weil dort sein geliebtes Platt gesprochen wurde.
Der Vater Bruno Haas Tenckhoff war Diplom-Bibliothekar an der Universitäts-Bibliothek. Er veröffentlichte bei Coppenrath sein Buch ,Münster und die Münsteraner in Darstellungen aus der Zeit von 1800 bis zur Gegenwart'. Überhaupt waren Bücher und Münster immer ein Thema bei Tisch, und so wurde bei Lieslotte bereits in jungen Jahre die Leidenschaft für die Literatur und zu ihrer Heimatstadt geweckt.
Die Eltern, beide Münsteraner, hatten unterschiedliche Konfessionen. Der Vater war evangelisch, die Mutter katholisch. Ihre beiden Kinder wurden - so von der katholischen Kirche erwartet - katholisch getauft. Und wie es später einmal sein sollte, konvertierte Liselotte zum evangelischen Glauben, weil die Familie ihres künftigen Mannes aus Ostfriesland streng evangelisch war. Es wäre in deren Augen ein nicht unerhebliches ,Ehehindernis' gewesen, wenn der Sohn eine ,Katholische' geheiratet hätte. Außerderm war es nicht sehr gern gesehen, dass sie keine Ostfriesin war.
Liselotte besuchte nach der Volksschule (Erphoschule) das Freiher-vom-Stein-Gymnasium an der Sonnenstraße. Es war vom Hohen Heckenweg mit dem Fahrrad gut erreichbar. Mit den kirchlichen Angelegenheiten nahm man es ganz pragmatisch. Sowohl katholische als auch evangelische Gottesdienste wurden besucht.
Liselotte hörte als junges Mädchen das Niederrauschen der Bomben und die darauf folgenden Explosionen. Sie hatte große Angst. 1941 wurde ihr Steingymnasium in der Sonnenstraße zerstört. Liselottes Unterricht fand nun im Wechsel an mehreren münsterschen Schulen - aber mit viel Unterrichtsausfall - statt.
Münster gehörte im Bombenkrieg zu den besonders gefährdeten Städten. Mit der Kinderlandverschickung (Evakuierung von Kindern in ungefährdete Gebiete) kam Liselotte mit vielen Mitschülerinnen nach Oberbayern. Die Berge der Alpen beeindruckten sie zutiefst. In dieser Zeit gab es einen reduzierten Schulunterricht.
Ende des Krieges lebte Liselotte mit ihrer Mutter in der Umgebung von Bückeburg, wo sie auch das Gymnasium besuchte. Bereits 1945 kehrte der Vater - er war im Krieg Offizier - verletzt zur Familie zurück. Als der Vater nach Münster kam, fand er die Wohnung am Hohen Heckenweg von einer anderen münsterschen Familie besetzt vor. Noch im gleichen Jahr zog die Familie wieder nach Münster. Sie hatte den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden - es war der Anfang einer neuen Zeit.
1945 war ein Schulbesuch noch nicht möglich. Daher fing Liselotte zunächst bei einem Augenarzt als Sprechstundenhilfe an. Ohne Erwerbstätigkeit gab es nämlich keine Lebensmittelmarken. Bei Schwestern im Kreuzviertel lernte sie das Nähen. Besonders zu bemerken ist Liselottes praktische Veranlagung. Den Schlauch eines Fahrrades konnte sie problemlos flicken. Scherzhaft sagte ihr Vater, sie könne, falls sie das Abitur nicht machen würde, Fahrradflickerin werden. Aber 1949 hatte sie das Abitur in der Tasche.
Die Rechtswissenschaften wollte Liselotte studieren. Für die Zulassung gab es eine zeitliche Hürde: Ein Ausgleichsdienst musste zunächst abgeleistet werden. Wie alle anderen Studenten half Liselotte ein halbes Jahr lang mit, die Trümmer und den Schutt am Krummen Timpen zu räumen.
Im Juristischen Seminar am Schlossplatz lernte Liselotte die Liebe ihres Lebens kennen. Ein junger Mann fragte sie zunächst nach der Uhrzeit und dann eine halbe Stunde später, ob sie mit ihm im Schlossgarten spazieren gehen möchte. Es war Helmut Folkerts, der sein Jurastudium gerade beendet hatte.
Helmut leistete sein Referendarirat in Ostfriesland ab. Eine Ausnahme war die Zeit beim Rechtsanwalt Herlitzius am Prinzipalmarkt. Daneben sollte auch die Doktorarbeit bei Professor Dr. Harry Westermann in Angriff genommen werden. Liselotte saß dafür an der Schreibmaschine. Auch sie absolvierte ihre Staatsexamen. - In dieser Zeit festigte sich ihre Beziehung.
Nach dem Helmut seine Assessorprüfung bestanden hatte, bewarb er sich bei der Oberfinanzdirektion Münster, wo er im Herbst 1953 seinen Dienst antrat. Im gleichen Jahr wurde geheiratet. Zwei Kinder kamen zur Welt, und Liselotte praktizierte eine Zeitlang als Rechtsanwältin. Helmut wurde nach mehreren beruftlichen Stationen bald Vertreter des Leiters des Finanzamtes in Coesfeld, und beide bezogen dort eine wunderschöne Wohnung. Aber dies währte nicht lange, denn Helmut wurde nach Höxter versetzt.
Auch dies war damals wichtig für das berufliche Weiterkommen, und zwar die richtige Konfession. Weil der Chef eines Finanzamtes katholisch war, musste sein Stellvertreter evangelisch sein. Das war Helmut Folkerts.
Zunächst wohnte die Familie in der Dürerstraße. Man hatte kein Auto, und es galt, sparsam zu haushalten. Die Kleidung wurde bei C&A gekauft, einen Fernseher gab es nicht. Als es dann um den Hauserwerb an der Wienburgstraße ging, unterstützten beide Großmütter nach Kräften die Familie.
In diesen Jahren war die Betreuung der Kinder und der älter werdenden Eltern für Liselotte Folkerts wichtiger als ihre Berufstätigkeit. 3 Jahre pflegte sie ihre Mutter. Daneben fing sie an, das
zu tun, was ihr am Herzen lag: das Sammeln und Lesen von Büchern mit den Schwerpunkten Münster, Münsterland und Westfalen. Sie begann zu schreiben und zu veröffentlichen. Ihre Aufsätze erschienen
regelmäßig in der ,Roten Erde' der Westfälischen Nachrichten. Wichtig war es für sie, das angefangene Werk ihres Vaters ,Münster und das Münsterland im Gedicht' zu vollenden.
Welche Ereignisse in Ihrem Leben waren für Sie herausragend?
Die Geburt meiner Söhne Here und Enno. Sie kamen in Höxter zur Welt. Und natürlich das Kennenlernen von Helmut, das mein ganzes Leben bestimmen sollte.
Die Liebe zur Literatur und zu Münster ist zeitlebens Ihr großes Thema. Wie ließ es sich realisieren?
Meine Heimatstadt und die Verbindung zur Literatur haben mein ganzes Leben bestimmt. Es war mir mit in die Wiege gelegt worden, und es hat mich nie losgelassen. Von Kindesbeinen an waren Bücher meine ständigen Begleiter. Ein großes Glück kam hinzu, dass Helmut mich in jeder Hinsicht unterstützte. Ich konnte meinen Beruf als Rechtsanwältin aufgeben und mich - neben der Familie - voll und ganz literarisch betätigen.
Sie haben eine weitere Leidenschaft?
Ja, das Sammeln von Antiquitäten, Kunstschätzen, Büchern und Bildern. Mein Mann und ich haben deshalb viele Auktionen besucht, mit denen auch eine Reisetätigkeit verbunden war. Wir haben auch die Länder und Städte besucht, die Helmut als Soldat kennengelernt hatte. Darüber hinaus haben wir keine großen Reisen unternommen.
In Ihrem Haus gab es literarische Veranstaltungen?
Über viele, viele Jahre war unser Haus Treffpunkt und Mittelpunkt für Lesungen und literarische Abende. Meist wurde auch ein kleiner Imbiss gereicht. Und wenn eines meiner Bücher neu erschienen war, konnte ich voller Freude im Kreise meiner Gäste daraus vorlesen. Es gibt nichts Schöneres für eine Autorin, das eigene Werk vorstellen zu können...
Sie werden aufgrund der vielen Veröffentlichungen als Münsters literarisches Gedächtnis bezeichnet. Sind Sie eine ,Vielschreiberin'?
Es kommt sicherlich nicht auf die Vielzahl der Publikationen an. Aber im Laufe der Jahre sind doch 20 Bücher von mir erschienen. Mein letztes Buch hat den Titel ,Johann Georg Hamann in Münster und dem Münsterland. Ein Vorgeschmack des Himmels'.
Hinzu kommen 30 Aufsätze, die in der WN-Beilage ,Auf Roter Erde' veröffentlicht wurden. Die Themenvielfalt reicht von Goethe über Heine bis zur Kinderlandverschickung. Im Aufsatz zum letztgenannten Thema habe ich meine Erinnerungen aus dieser Zeit festgehalten. Daneben gab es viele weitere Aktivitäten, zum Beispiel die Mitarbeit an literarischen Themen.
Gibt es einen Fixpunkt in Ihrem literarischen Schaffen?
Ja, da steht die Annette-von Droste-Hülshoff an erster Stelle. Sie war immer in unserem Fokus. Besonders gefreut haben wir uns daher, der Annette-von-Droste-Hülshoff-Stiftung unsere Sammlung von
Gemälden, Grafiken und anderen Objekten als Zustiftung angliedern zu können. Diese Zustiftung bleibt mit unserem Namen verbunden. Zurzeit hängen mehrere Portraits im Eingangsbereich der Burg
Hülshoff.
Haben Sie Pläne, was Ihre Sammlungen und Kunstwerke betreffen?
Ich weiß, dass das Haus inzwischen mehr oder weniger einen musealen Charakter erhalten hat. Aber konkrete Pläne, was damit später geschehen soll, bestehen nicht. Mein Mann bemerkte dazu, es sei letztlich egal, was einmal daraus wird, wir würden dann nicht mehr leben.
Ich habe mich bei Frau Folkerts über das freundliche Gespräch und die alten Fotografien bedankt. Und ich glaube, dass sie sich über mein kleines Buchgeschenk ,Münster zurückgeblättert' gefreut hat.
Quellen
Fotos: Liselotte Folkerts - falls nicht anders angegeben
Text und Idee: Henning Stoffers