was machten die Menschen vor mehr als 100 Jahren in ihrer Freizeit? Es gab erstaunlich viele Vereine unterschiedlichster Art und natürlich eine Großzahl an Gaststätten, Restaurants sowie
Ausflugslokalen am Rande der Stadt.
Wie die Menschen damals ihre Freizeit verbrachten, erzählt diese Bildgeschichte am Beispiel des Wander- und Geselligkeitsvereins ,Überall'.
Ihr Henning Stoffers
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Deutschland eine Monarchie. Kaiser Wilhelm II. regiert als Staatsoberhaupt. Der Staatsapparat mit Eisenbahn und Post ist stark hierarchisch geprägt. Noch
unbekannt sind Fernsehen, Radio, Kino und Mobiltelefon. Autos und Telefone sind eine Rarität. Gearbeitet wird montags bis samstags. 60 Stunden oder mehr sind normal. Der häufigste Beruf einer
Frau ist der eines Dienstmädchens - die Arbeitswelt ist männlich geprägt.
Münster ist aufstrebende Hauptstadt der preußischen Provinz Westfalen. Die Einwohnerzahl geht an die 100.000 und hat sich somit seit dem Jahre 1800 mehr als verfünffacht. Neu ist ein Hafen mit Anschluss an den Dortmund-Ems-Kanal, Münster ist bedeutende Garnisonstadt und beherbergt große Verwaltungen und Behörden, zum Beispiel die Reichsbahndirektion oder die Oberpostdirektion. Die Industrie ist nur gering ausgeprägt.
Wie haben die Menschen damals ihre freie Zeit
- außerhalb der Familie - verbracht?
Die Freizeit eines Handwerkers, ,kleinen' Angestellten oder Beamten ist knapp bemessen. Knapp ist auch das Geld für freizeitliche Vergnügungen. Für ein Feierabend-Bier findet der Bürger in fast jeder Straße eine Kneipe, oft sind es auch gleich mehrere. Die Studenten haben ihre Verbindungshäuser, und die vornehmere Gesellschaft verkehrt in Klubs, zum Beispiel dem Civilclub oder dem Zwei-Löwen-Klub. Die adligen Kreise haben ebenfalls ihre gesellschaftlichen Einrichtungen.
Daneben präsentiert sich ein ausgeprägtes Vereinsleben. Der hier abgebildete Auszug aus dem Einwohnerbuch von 1911 verschafft einen Einblick über die Vielfalt der Vereine. Aber längst nicht alle Vereine sind aufgeführt - es fehlen diejenigen, die nicht im Vereinsregister geführt werden. Daher ist der Wander- und Geselligkeitsverein ,Überall' - über den nachfolgend berichtet wird - im Adressbuch nicht zu finden.
Erstaunlich ist die Vielzahl der Antialkoholiker-Vereine. 1911 sind es 7 an der Zahl. - Heute ist es für uns kaum fassbar, dass allein ein Bullenkopp 6 Liter Altbier aufnimmt. Dass solche überdimensionierten Trinkgefäße den Alkoholmissbrauch fördern, kann vermutet werden.
Man hat sich zufällig kennengelernt, und zwar im Schwimmverein. Es sind Herren aus der bürgerlichen Gesellschaftsschicht, bereits etwas älter, jenseits der 50 - Beamte, Lehrer und Kaufleute. Sie verstehen sich, sind sich sympathisch - und so fassen sie den Beschluss, sich auch nach dem Bad gesellig zu vergnügen. Man möchte seine Freizeit in angenehmer, gleichgesinnter Gesellschaft verbringen, miteinander reden, ein Altbier trinken und eine Pfeife rauchen. Es dauert nicht lange, und feste Strukturen des Miteinanders bilden sich. Es kommt zu regelmäßigen Zusammenkünften, Ausflüge werden gemacht und Freundschaften entstehen.
Damit die abendlichen Treffen ,im Rahmen' bleiben, wird klugerweise nicht der Samstag gewählt. Die Gefahr, bis zum Sonntagmorgen in der Kneipe zu ,versacken', wäre zu groß. Es wird daher der Montag bestimmt, denn dienstags muss gearbeitet werden, und dann muss der Kopf klar sein.
Es gibt eine weitere Regel: Die Zusammenkünfte finden dort statt, wo gerade das beste Altbier gebraut ist. Das sind die Altbiergaststätten Appels, Müller, Mühlenhoff, Franke, Börding und Tenkhoff - hiervon existiert heute nur noch Pinkus Müller.
Da einige neue Mitglieder kein Altbier vertragen, kommen Gaststätten hinzu, die ,Frischbier' anbieten. Ein etwas süffisanter Spruch besagt: ,Frischbier ist für Frau und Kinder, Altbier trinkt nur der, der's kennt.'
Da sich die Herren in den verschiedensten Gaststätten treffen, also überall in Münster, wird für den seit 1884 bestehenden Verein der Name ,Überall' gewählt. Es wird auch üblich,
dass man sich mit ,Überall' begrüßt.
Die Mitgliederliste führt die persönlichen Daten auf. Bei den Katholiken ist der für sie wichtige Namenstag angegeben, ansonsten der Geburtstag. Nach heutigen Ansprüchen wirkt die Liste wenig professionell, aber für die damaligen Zwecke war sie durchaus ausreichend.
Wie jeder Verein hat auch ,Überall' einen Präsidenten. Als Ziele sind gesetzt: Geselligkeit im Freundeskreis, Humor, Gesang und Wanderungen in der näheren Umgebung.
Es gibt eine raffinierte Regelung, die die jeweiligen Treffpunkte bestimmt - und dies ohne Telefon, das so gut wie keiner hat. Für jeden Montag eines Monats ist um 18 Uhr ein anderer fester Treffpunkt vereinbart. Es beginnt im Monat Mai mit dem Neutor und mit einer Wanderung zum Bakenhof. Für die darauf folgenden Montage sind es dann das Kreuz-, das Neubrücken- und das Mauritztor und so weiter bis in den Herbst hinein. Die jeweiligen Wanderziele wechseln ebenfalls.
So ist es für jedes Mitglied äußerst einfach, den jeweiligen Treffpunkt mit einem Blick auf den Kalender festzustellen.
Bei den Wanderungen wird nach einer Stunde Rast gemacht. Man gönnt sich ein ,Klücksken' und verzehrt sein Butterbrot. Zurück geht es dann bestgelaunt in ein Vereinslokal.
Montags, da lässt's mich nich'
Zu Hause bleiben.
Wenn rot das Abendlicht
Blinkt durch die Scheiben.
Wird mir's im Kopf wirr,
Feder versagt mir,
Muss zu den Freunden.
Sitzen im ,Überall'
Froh wir beisammen,
Lieder mit lautem Schall
Stets uns umfangen
Hat's mich gedrückt die Woch',
Hier werf ich ab das Joch,
Hier bei den Freunden.
Einmal im Jahr - während der großen Ferien - findet eine einwöchige Wanderung statt. Mit Proviant im Rucksack geht es mit dem D-Zug ins Sauerland oder in ein anderes, vorher sorgfältig ausgesuchtes Gebiet. Über jede Wanderung wird von wechselnden Protokollanten akribisch Buch geführt: wo man übernachtet, wie das Frühstück schmeckt, was die Fahrkarte kostet, wie die Wanderroute ist und welche Ereignisse zu verzeichnen sind. Es fehlen nicht einmal die Abfahr- und Ankunftzzeiten der Züge.
Die Teilnahme kostet pro Kopf etwa 40 Mark. Das sind umgerechnet heute runde 240 Euro.
Weitere Höhepunkte des gesellschaftlichen Lebens vertiefen die Freundschaften und die Zusammengehörigkeit. Jährlich werden mit den Familienangehörigen gemeinsame Feiern veranstaltet: ein großes Sommerfest, das Lambertussingen und die Nikolausfeier.
Der Verein zählt in seinen besten Jahren etwas über 25 Mitglieder. Schriftführer über etliche Jahre hinweg ist Rektor Heinrich Diehle, der 1939 Vorsitzender des Vereins mit nur noch 3 Mitgliedern wird. In den 1950er Jahren sterben die letzten Mitglieder.
Die Zeiten ändern sich. Neue Medien verändern das Freizeitverhalten der Menschen. - Es ist das Ende des Vereins nach einer 70jährigen Geschichte.
Heinrich Diehle erzählte 1961 in der Reihe ,Kärls und Köppe' der Westfälischen Nachrichten über den Verein ,Überall'. So ist es ihm zu verdanken, dass seine Erinnerungen an eine längst vergangene
Zeit der Nachwelt erhalten bleiben.
Quellen
Westfälische Nachrichten: Kärls und Köppe 1961
Heinrich Diehle: Aufzeichnungen
Henning Stoffers: Text und Fotos, Eintrittskarten
Danke
Herrn Rektor a.D. Rudolf Stratmann danke ich für die freundliche Unterstützung und Bereitstellung der Vereinsunterlagen.