die Weinhandlung Carl Niemer mit ihrern Probierstuben gehörte zu den münsterschen Traditionsunternehmen - wie unter anderem die Cafés Schucan, Kleimann, Grotemeyer, das Hotel Freudiger oder das Schuhhaus Stupperich. Sie alle gibt es nicht mehr.
Fast 170 Jahre hatte die Weinhandlung (in der Salzstraße 57 seit 1875) mit all seinen Höhen und Tiefen festen Bestand innerhalb der Bürgerschaft. Heute erinnern nur zwei Buchstaben am Balkon des Hauses an das Unternehmen, das 1992 für immer seine Kellereien und Probierstuben schloss.
Für das Überlassen von Informationen und Bildern danke ich Frau Dr. Sybille Demmer und Herrn Dr. Stefan Schaub aus der Familie Niemer.
Ihr Henning Stoffers
Seit Menschengedenken werden Bier und Wein gern getrunken. Dieses hat seinen guten Grund:
Das Wasser, das aus dem Erdreich gepumpt oder aus einem Gewässer entnommen wird, ist meistens verunreinigt und somit krankmachend.
Dagegen sind das Bier durch den Brauprozess und der Wein durch seine Kelterung keimfrei und somit besser bekömmlich als unreines Wasser. Hinzu kommt die berauschende Wirkung als oft geschätzter Nebeneffekt.
So ist es nicht verwunderlich, dass Wein- und Bierprodukte schon immer Bestandteil des täglichen Lebens sind.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehen Großbrauereien und verdrängen die kleinen Braustätten. Münster hatte beispielsweise im Jahr 1825 immerhin 300 Schenkwirte bei einer Einwohnerzahl von 18.000. Das heißt, dass ein Schenkwirt 60 Münsteraner - vom Säugling bis zum Greis - versorgte. An diesem Beispiel wird deutlich, wie drastisch sich alte Strukturen verändern. Gleiches gilt für den örtlichen Weinhandel mit seinen Weinstuben. Hier ist der Auslöser der bequeme Weinversand, der durch das Internet sich weiter verstärkt.
Das Stadtweinhaus wurde Anfang des 17. Jahrhunderts erbaut und ist nur durch eine schmale Gasse vom Rathaus getrennt.
Im Stadtweinhaus wurde bis Mitte des 18. Jahrhunderts der Wein, für dessen Handel der Rat bis zur Einführung der Gewerbefreiheit im Jahre 1810 das Monopol besaß, gelagert.
Weinhändler hatten hier ihre Wohnung. Der Civilclub, die Stadtwache, der Verkehrsverein und auch ein Ballsaal waren hier untergebracht. Über Jahrhunderte wurde das Haus bis auf den heutigen Tag als Weinschänke und als Gaststätte genutzt.
Das Stadtweinhaus wurde im Krieg zerstört. Nur Teile der Fassade blieben erhalten. Der Wiederaufbau erfolgte in den Jahren 1955-1958.
Die Wurzeln der Firma Niemer sind in Everswinkel zu finden. Dort betreibt Bernhard Josef Niemer, geboren 1790 und seit 1827 verheiratet mit Elisabeth Niemer, geb. Kocks, eine landwirtschaftliche Brennerei mit Landhandel und eine Gastwirtschaft mit einer Poststation. Zugleich ist er im Jahre 1825 Mitbegründer der Brennerei und Likörfabrik Josef Hemmerling & Co in der Hollenbeckerstraße 28 im Kuhviertel. Dorthin verkauft Bernhard Josef Niemer auch seine Brennereiprodukte .
Seine Beteiligung an dieser Firma wird im Laufe der Jahre immer größer, weil er die Verkaufserlöse nicht entnimmt.
Sein Sohn Carl Niemer, geboren 1838 als neuntes von elf Kindern, tritt 1864 in die münstersche Firma ein. 1870 wird das Unternehmen in ,Carl Niemer Weinhandlung und Likörfabrik' umfirmiert. Carl Niemer ist nunmehr der alleinige Besitzer.
Hemmende Zollschranken werden in diesen Jahren aufgehoben. Das Geschäft entwickelt sich sehr gut. Carl Niemer heiratet 1875 Bernhardine Wilhelmine Wormstall; 9 Kinder werden ihnen geschenkt.
Die Räumlichkeiten im Kuhviertel sind inzwischen so sehr beengt, dass nicht wie gewünscht expandiert werden kann. Eine Lösung muss gefunden werden.
Carl Niemer hat sich in kurzer Zeit den Ruf eines exzellenten Kaufmanns erworben. Der Bankier Franz von Olfers ist von der Tüchtigkeit des jungen Kaufmanns überzeugt und unterstützt ihn 1874 beim Erwerb der Häuser Salzstraße 57 und Syndikatgasse 4/5.
Der Umzug der Weinhandlung an die Salzstraße geschieht im Jahr 1875. Ein Meilenstein - eine Weichenstellung, die die Zukunft des Weinhauses mit ihren Menschen auf Generationen bestimmen sollte. Seit Bestehen der Firma sind lediglich 50 Jahre vergangen, und seit nur 5 Jahren leitet Carl Niemer das Unternehmen.
Dringend wird Platz für die Lagerung der Weinfässer benötigt. Die Keller in den neu erworbenen Häusern werden unter sorgfältiger Schonung der alten Bausubstanz ausgebaut.
1889 entstehen im Erdgeschoss zwei Ladengeschäfte. Fünf Jahre später wird auf dem Grundstück Syndikatgasse für 40.000 Goldmark ein Neubau errichtet. Zeitweise ist dort das Standesamt untergebracht.
In den Jahren des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist Münster von einem starken Bevölkerungszuwachs und einer enormen Bautätigkeit geprägt. Die Stadt ist seit 1848 an das Eisenbahnnetz angeschlossen, Wasserleitungen und Kanalisation sind gebaut; der technische Fortschritt hält Einzug. Neue Stadtviertel außerhalb der Promenade entstehen. Behörden haben in der Provinzialhauptstadt ihren Sitz erhalten. Münster ist auf dem Weg, eine Großstadt zu werden.
Diese Blütezeit jener Jahre und die Tüchtigkeit von Carl Niemer sind die Grundlagen für das Expandieren des Unternehmens.
1907 stirbt Carl Niemer. Der älteste Sohn Carl Eduard (geb. 1876) übernimmt die Leitung des Unternehmens. Er hatte zunächst ab 1894 Kunstgeschichte studiert und erst danach eine Ausbildung im Weinhandel gemacht.
Der Bau des heutigen Hauses in der Salzstraße mit der neobarocken Fassade (Architekt Alfred Hensen) ist seinem künstlerischen Geschmack zu danken.
Als dann 1914 der 1. Weltkrieg ausbricht, werden Carl Eduard Niemer und auch sein jüngerer Bruder Josef Niemer (geb. 1892) zum Militär eingezogen.
Josef Niemer wird 1922 Mitgesellschafter des Unternehmens. Zuvor hat er eine breit angelegte Ausbildung erhalten: Er macht eine Lehre in einer Winzerei, arbeitet in einem Weinkontor und besucht eine Weinbauschule. Sein älterer Bruder Carl Eduard überlässt ihm im Wesentlichen die Geschäftsführung.
Josef heiratet Anfang 1922 Franziska Astor, die er in einer seiner Ausbildungsstationen in Bernkastel an der Mosel kennen gelernt hatte.
Nach den schweren Jahren geht es wieder aufwärts. Wichtiges Kapital sind dabei Erfahrung und Aufbauwille. Eine wesentliche, von Josef Niemer herbeigeführte Entscheidung war es dabei, den größten Teil des Erdgeschosses 1928 an das Warenhaus Woolworth zu vermieten. Es ist die fünfte Filiale des US-amerikanischen Einzelhändlers in Deutschland.
Niemers Wein-Probierstuben und die weiteren Gasträume ziehen in die 1. Etage. Mit dieser Entscheidung erhöht sich die Rentabilität des Gebäudes erheblich. Ein Teil des Gebäudes Syndikatgasse 4/5 wird 1929 an das Textilhaus Kluxen vermietet.
Der Krieg verändert das Leben der Menschen tiefgreifend. Josef Niemer wird erneut zum Militär eingezogen. Die ganz Last und Verantwortung ruht nun wieder bei Carl Eduard Niemer, der inzwischen 63 Jahre alt ist.
Das Warenlager schrumpft, das Warenangebot verknappt sich. Ein LKW geht samt Fahrer an die Wehrmacht, Mitarbeiter werden als Soldaten eingezogen. Frauen übernehmen deren Tätigkeit.
Als dann 1941 die USA in den Krieg eintritt, muss Woolworth als amerikanisches Unternehmen schließen. Neuer Mieter mit Papierwaren wird die in ihrem Stammhaus am Drubbel früh ausgebomte Firma Heinrich Buschmann.
Josef Niemer kehrt 1943 in das Unternehmen zurück. Er ist vom Militärdienst freigestellt.
Wie durch ein Wunder wird das Haus Salzstraße 57 nicht zerstört. Lediglich der Papierwarenladen im Erdgeschoss wird aufgrund der Bombardierung des gegenüber liegenden Hauses (Spielwaren Feibes) in Brand gesetzt. Der Brand kann jedoch rasch gelöscht werden. Das Haus Syndikatgasse 4/5 wird von Bomben getroffen und ist völlig zerstört.
Seniorchef Carl Eduard Niemer erlebt das Kriegsende nicht mehr. Er stirbt am 7.3.1945 aufgrund eines Unfalls.
Die Lager- und Produktionsstätten verteilen sich auf mehrere Standorte: Salzstraße, Syndikatgasse, Bült 22 und 29, Alter Steinweg 12. Danach wird der Weinkeller ins Hafengebiet (Dortmunder Straße 47 und zuletzt in die Lingener Str. 12) verlegt. Dort konnten später auch Autofahrer bestellten Wein an einer Rampe abholen.
In den zeitweise mehr als 800 qm großen Kellern lagert der Wein bei niedrigen Temperaturen.
Der Wein kommt nicht nur aus deutschen Weinanbaugebieten, sondern auch aus dem Ausland, wie beispielsweise Frankreich, Spanien, Portugal.
Für die Befüllung der Flaschen und deren Etikettierung sind eigene Maschinen vorhanden. - Exportiert wird auch in die USA, wie der Kistenaufdruck im linken Bild verrät.
Traditionell ist die Firma Carl Niemer auch für die Bereitstellung des Messweines beauftragt. Die Anforderungen dürften denen des heutigen Bioweins entsprechen.
Heute wird als Messwein vorwiegend Weißwein genommen. Dieser muss naturrein, aus Weintrauben gewonnen und nicht verdorben sein.
Josef Niemer ist nach dem Tod seines Bruders alleiniger Inhaber. Er steht vor dem Nichts. Die Keller und Lager sind leer, geplündert oder beschlagnahmt; das Haus Syndikatgasse ist zerstört. Für kurze Zeit wird der Laden an das Reisebüro Lückertz vermietet. Am 20.11.1945 öffnet sich wieder die Weinstube, allerdings mit einem kaum nennenswerten Angebot.
Woolworth kehrt im Juni 1946 in das provisorisch hergerichtete Ladengeschäft zurück; dafür wird auch ein schmaler Teil des Erdgeschossses des Hauses Syndikatgasse 4/5 wieder errichtet. - Es sind die ersten Anfänge.
Josef Niemers Tochter Gisa (die älteste von drei Schwestern) arbeitet seit 1941 als Kontoristin in der Weihnhandlung. Sie heiratet 1946 Goske von Möllendorff, einen ehemaligen Kapitänleutnant bei der Marine. Als Josef Niemer 1947 für acht Monate schwer erkrankt, unterbricht sein Schwiegersohn seine Ausbildung zum Weinkaufmann und übernimmt vorübergehend die Leitung.
Nach der Währungsreform 1948 normalisiert sich das Leben. Kurze Zeit später werden die Lebensmittelkarten abgeschafft. Der Wiederaufbau der zerstörten Stadt hat begonnen. Es sind Jahre des beginnenden Wirtschaftswunders.
Auch das Unternehmen Carl Niemer erlebt den Aufschwung. Filialen werden in der Warendorfer Straße und in Hamm eröffnet.
Bekannte Persönlichkeiten werden als Gäste begrüßt: Bundespräsident Theodor Heuss, Bundeskanzler Konrad Adenauer, Hubert von Meyerinck, Elisabeth Flickenschild u.a.
Das Jahr 1955 hat für die Firmengeschichte eine besondere Bedeutung: Die Feier des 130-jährigen Jubiläums. Im selben Jahr wird aber auch das Weinrestaurant (das stets von einem Pächter geführt worden war) geschlossen – Alkohol am Steuer ist zum Thema geworden. Die Räume werden teilweise als Probierzimmer für den Weinverkauf weitergenutzt.
1961 wird auch das rückwärtige Geschäftshaus Syndikatgasse 4/5 endlich in voller Breite und mit zwei Obergeschossen wieder aufgebaut (Architekten Baak und Brößkamp). Woolworth nutzt ab 1962 das fertiggestellte Gebäude im voller Ausdehnung im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss.
IN SECUNDIS MODESTUS IN ADVERSIS FORTIS
In guten Tagen bescheiden, in schlechten tapfer.
Diese von Josef Niemer ausgewählte lateinische Inschrift befindet sich am Haus Syndikatgasse. Ein Wahlspruch, der nicht treffender zur Geschichte des Weinhauses Niemer
hätte gewählt werden können.
Goske von Möllendorff, seit 1954 Prokurist, wird 1962 Teilhaber der Firma.
Das 150jährige Bestehen wird 1975 gefeiert.
Josef Niemer stirbt 1979 nach rund 60-jähriger Tätigkeit im Niemerschen Weinhandelsunternehmen. Im gleichen Jahr werden Gisa und Goske von Möllendorff Hauptgesellschafter der OHG; sie führen das Geschäft ideenreich weiter.
Der Weinverkauf wird ins 1. Obergeschoss verlegt; der kleine Laden im Erdgeschoss an die Fa. Yves Rocher vermietet (heute „Bärentreff“). Dennoch beginnt ein langsamer Abschied. Der Geschäftsbetrieb der Firma Carl Niemer wird von 1984 bis 1992 an die Firma A. Hoberg in Osnabrück verpachtet. Diese verfügt 1992 die Schließung der Weinhandlung in Münster.
167 Jahre gehörte die Firma Carl Niemer mit ihren Inhabern, Chefs, Mitarbeitern und natürlich mit ihrem Wein zu Münster. Die Weinstuben waren mit ihrer gediegenen Attraktivität einer der gesellschaftlichen Mittelpunkte der Stadt.
Das Weinhaus erlebte die Stürme der Zeit. Kriege, Inflation und Zerstörung hinterließen tiefen Spuren. Es gab bittere Stunden, aber der Wille, erneut Fuß zu fassen, ließ das Unternehmen immer wieder erblühen.
1992 endet die Geschichte des Weinhauses Carl Niemer. Die Erinnerungen bleiben...
... Gerne habe ich das Haus Salzstraße 57 II. Etage besucht. Ich habe nicht nur die Inneneinrichtung bewundert, sondern aus den Beständen von 1967 bis 1983 gerne für das Amt St. Mauritz eingekauft. Auch später war ich Kunde. Eine Preisliste mit schönem Deckblatte befindet sich heute noch als Erinnerung in meinem „Archiv“.
Als Jahrgang 1942 habe ich erlebt, wie in den 1950er Jahren die ersten Kaufhäuser in den Städten entstanden. Woolworth war zu der Zeit die große Errungenschaft für Münster und wurde bewundert. Ein Baufachmann oder etwa Denkmalspfleger bin ich nicht. Doch das Historische Haus Niemer ist für mich ein Beispiel dafür, wie in der Aufbauphase rigoros mit prägender Bausubstanz umgegangen wurde. Die schöne Fassade des Erdgeschosses haben Baufirmen leider abgerissen...
...Ich muss zugestehen: In Münster und vielen anderen Städten stehen vergleichbare Häuser. Anlässlich einer Veranstaltung zur Denkmalpflege sagte einmal ein Referent, dass die städtebaulichen Sünden aus den 1959er / 1960er Jahren eigentlich unter Denkmalschutz gestellt werden müssten.
Eine kleine Anekdote:
Ich habe 1976 bei Woolworth gearbeitet. Etliche Mitarbeiter/innen blieben nach Feierabend um 18:30 Uhr noch im Pausenraum in der 1. Etage. Der öffentliche Nahverkehr war damals noch etwas anders gestrickt. Züge nach zB. Drensteinfurt fuhren nicht im Halbstundentakt.
Es war daher durchaus üblich, sich in geselliger Runde mit einem Glas Sekt oder auch zwei oder drei die Zeit zu vertreiben. Der Sekt wurde zum Feierabend bei Niemer besorgt. Die Flasche kostete damals 4,95 DM
Ein weiterer Grund war das Ausharren, bis am Parkplatz am alten Kiffe-Pavillion endlich der Parkwächter seinen Feierabend antrat. Meist gegen kurz nach 20 Uhr blieb die Schranke oben und man hatte dann 5 Mark für ein Tagesticket gespart.
Diese Zeiten bleiben unvergessen.
Quellen
Text und Idee: Henning Stoffers
Abbildungen und Informationen: Dr. Sybille Demmer und Dr. Stefan Schaub
Mit HS gekennzeichnete Fotos:
Sammlung Stoffers (Münsterländische Thie Bank - Stadtarchiv)