im Oktober 2019
an einem sonnigen Herbsttag durfte ich die alte Stadtmauer an der Westerholtschen Wiese besichtigen. Verschlungene Pfade, ausgetretene Treppen, eine Kasematte, ein großes, tiefes Loch und von Efeu umwucherte Schießscharten sind Zeugen einer längst vergangenen Zeit. Vieles ist noch unerforscht.
Zu dem historischen Spaziergang lade ich Sie herzlich ein.
Ihr Henning Stoffers
Ein herrlicher Herbsttag. Ich radelte zu meiner alten Schule, dem Paulinum am Stadtgraben. Mehr als 50 Jahre hatte ich den Schulbereich nicht mehr betreten. Nun stand ich am Eingang des Schulhofs. Hier sollte ich einen meiner Leser treffen, der mich führen wollte. Geheimnisse und Zeugnisse vergangener Jahrhunderte würden sich im hinteren Teil des Grundstücks verbergen, einem Bereich, dem ich als Schüler - leider - nie Beachtung geschenkt hatte.
Zunächst geht es auf eine Anhöhe, dem Rondell, bebaut mit einem Haus aus den 1960er Jahren. Links führt ein kleiner, unscheinbarer Weg direkt an den oberen Rand der Stadtmauer entlang. Es ist der alte Wehrgang. Eine ungewohnte Perspektive eröffnet sich: Etwa 7-8 Meter tiefer liegt der gepflegte Garten mit seiner Hecke und parallel dazu die Aa in ihrem renaturierten Bett.
Schießscharten sind im Mauerwerk eingelassen, teilweise zugewachsen von Efeu und anderen Pflanzen mit armdicken Ästen. Wie mag es vor 500 Jahren gewesen sein, als sich die Stadt anrückender Feinde erwehren musste? Standen hier Verteidiger, die aufmerksam und angespannt über die Mauer spähten?
Durch ein Gartenpförtchen erreiche ich den Fuß der Stadtmauer mit dem sich anschließenden Obstgarten und seiner Figurenhecke. Nun kann ich die Stadtmauer aus nächster Nähe betrachten. Der untere Teil besteht aus Bruchsteinen aus dem 12. Jahrhundert und ist etwa vier Meter hoch. Der obere Bereich wurde aus Ziegeln gemauert. Diese knapp 3 Meter hohe Backsteinmauer dürfte aus dem 16. Jahrhundert stammen.
Die Stadtmauer ist heute zum größten Teil sehr stark bewachsen, so dass ein Blick auf das Mauerwerk weitgehend verwehrt wird. Alte Fotografien zeigen das Bauwerk zum großen Teil frei von Bewuchs.
In etwa 4 Meter Höhe - noch im Bereich des Bruchsteinmauerwerks - sind sechs Steinkugeln eingemauert. Die Kanonenkugeln haben einen Durchmesser von 30 bis 50 cm und stammen aus der Belagerung von 1534-1535. Eine der Kugeln hat eine dunkelbraune, fast schwarze Färbung, dass man meinen könnte, sie sei aus Metall. Warum die Kugeln dort eingemauert worden sind, lässt sich heute nicht mit Sicherheit beantworten. Vielleicht sollten künftige Belagerer mit der hiermit herausgestellten Wehrhaftigkeit der Befestigung beeindruckt werden.
Fast verdeckt von umwuchernden Pflanzen entdecke ich ein mit Bruchsteinen umfasstes rundes Loch. Der Durchmesser mag 3 Meter bei einer Tiefe von 4 - 5 Metern betragen. Am Grund wächst Farn. Wie gelangt man dorthin? Eine Treppe oder einen anderen Zugang gibt es nicht. Nur mit einer Leiter kann hinabgestiegen werden.
Für welchen Zweck wurde dieses aufwendige Bauwerk errichtet? Diente es zum Gießen von Kanonen oder Glocken? Ein Geheimnis, welches vielleicht nie gelüftet wird...
Eine weitere Überraschung erwartete mich. Eine Kasematte, die viele Jahrhunderte überstanden hat.
Eine uralte, ausgetretene Treppe führt in den unteren Bereich des Rondells. Das obere Bild der Treppenanlage wurde um 1935 gemacht. Das nebenstehende Foto zeigt den jetzigen Zustand.
Hinter einer niedrigen Tür verbirgt sich ein tonnenförmiges Gewölbe. Gemauert aus Ziegelsteinen, ca. 8 Meter lang, 5 Meter breit und 3 Meter hoch. Die Öffnungen nach außen sind zu einer Seite hin vergittert und mit Schutt zugeschüttet. Ein weiterer kleinerer Raum schließt sich an. Der Boden ist bedeckt mit losem, trockenem Sand. Vielleicht liegt er dort seit Jahrhunderten...
Ich stehe in der Kasematte der alten Befestigungsanlage. Trotz der draußen herrschenden sommerlichen Temperaturen ist es hier sehr kühl. Beide Räume mögen einst der Aufbewahrung von Proviant, vielleicht auch von Schießpulver und anderen Kriegsgeräten gedient haben.
Am Mauerwerk sehe ich starke Setzrisse. Man hat versucht, diesen Prozess mit Eisenbändern aufzuhalten. Ich habe Zweifel, ob diese Maßnahme nachhaltig wirkt.
Versteckt im Gebüsch liegen zwei Stelen. Waren es Teile eines Grabes oder eines Kirchengebäudes? Wurden sie in der Täuferzeit hier abgelegt?
Eine idyllische Bank am Fuße der Stadtmauer lädt ein zum Verweilen an historischem Ort. Woher mögen die bearbeiteten Steinblöcke stammen? Das hintere Bruchsteinmauerwerk wurde mit Ziegelsteinen verfüllt. Offensichtlich waren Jahrhunderte später notdürftige Reparaturen erforderlich, um schadhafte Stellen auszubessern.
Viele Fragen tun sich auf. Ich bin mir sicher, dass Archäologen und Historiker auch künftig hier ein reiches Betätigungsfeld vorfinden werden.
Vor 100 Jahren brachte Clara Ratzka ihren Roman ,Familie Brake' heraus. Im Kapitel 4 wird der Bereich der Stadtmauer liebevoll beschrieben.
Wie oft hatte ich über die Jahre vom Promenadenwall aus auf die Westerholtsche Wiese, die Aa und auf die dahinter liegende Stadtmauer geschaut! Der sich der Stadtmauer anschmiegende Garten mit der Hecke und ihren kunstvoll geschnittenen Figuren hatte immer etwas Geheimnisvolles und Unerreichbares an sich.
Ich erinnere mich an die jährlichen Reitturniere, die seit den 1930er Jahren auf dieser einst sumpfigen Wiese abgehalten wurden. Die Vorbereitungen für das ,Turnier der Sieger' waren immens. Auf meinem Schulweg in den 50er Jahren konnte ich alles genau beobachten. Wassergräben und Hindernisse mussten aufwendig hergerichtet werden.
Am Promenadenwall entstanden die Zuschauertribünen. Das Publikum und die Reiter erlebten eine einzigartige Kulisse. - Der Turnierplatz wurde in späteren Jahren auf den Schlossplatz verlegt.
In meinen Träumen als 10-Jähriger hatte dieser Platz einen besonderen Stellenwert. Ich stellte mir vor, dass vor vollbesetzter Tribüne ein großes Orchester die 9. Sinfonie von Beethoven spielen würde. Der gewaltige Chor mit mehr als 1000 Stimmen bildete sich aus den Besuchern, die auf der Tribüne standen.
Heute ist dies mehr oder weniger Realität geworden, wenn zum Beispiel Carl Orffs großartige ,Carmina Burana' auf dem Prinzipalmarkt gespielt wird. Eine Aufführung durfte ich Mitte der 60er Jahre in der Halle Münsterland erleben. Ein älterer, kleiner Herr schritt unter dem begeisterten Jubel des Publikums langsam den Mittelgang entlang. Es war Carl Orff. Ich saß neben der Bühne, ganz in der Nähe der Pauke. Was war ich von dieser herrlichen Musik beeindruckt! Sie war jedoch auch ungemein ohrenbetäubend, wenn der Paukist seine Instrumente bearbeitete. Und als er dann aufstand, die Becken in die Höhe hebend, mit ausgebreiteten Armen auf den richtigen Zeitpunkt wartend, um sie dann theatralisch mit aller Kraft zusammenzuschlagen. Welch ein Moment!
Die Besichtigung der Anlage war beeindruckend. Wer hätte gedacht, ein Stück ursprüngliches Münster aus dem Mittelalter und aus der beginnenden Neuzeit zu sehen zu bekommen!
Ich danke Markus Gabriel und seinem Vater für die Informationen und freundliche Führung. Mit dabei war auch Paula, die Tochter von Markus. Ihr habe ich zugesagt, in ihrer Schule über Münsters Geschichte zu sprechen... Und das sehr gern.
Der Bereich der Stadtmauer ist leider öffentlich nicht zugänglich.
Quellen
Text und Idee: Henning Stoffers
Fotos, soweit nicht anders angegeben: Henning Stoffers
Benutzte Literatur
Max Geisberg
Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen: Stadt Münster Teil 1
Aschendorff 1932, Nachdruck 1975
Das schöne Münster, Heft 10/1936