September 2020
zum Haus Südstraße 100 kehren oft meine Erinnerungen zurück. Die Menschen und das nähere Umfeld waren meine kleine Welt. Man kannte den Bäcker, den Metzger und die Leute vom Lebensmittelladen, den Doktor um die Ecke, den Schuhmacher in seiner Kellerwerkstatt und natürlich seine Nachbarn.
Ich denke an die teils leergeräumten Trümmergrundstücke, auf denen im Spätsommer die Goldrute blühte. Mit dieser Pflanze schmückten wir die Lambertus-Pyramide.
An die Zeit der frühen 1950er Jahre in der Südstraße 100 erinnert dieser Beitrag.
Ihr Henning Stoffers
Das Mehrfamilienhaus Südstraße 100 lag zwischen einem Trümmergrundstück und der weitgehend zerstörten Trainkaserne. Es war beginnend von der Augustastraße bis hin zur Kronprinzenstraße das einzige Gebäude auf der linken Straßenseite. Billig war der Bau in den frühen 50er Jahren auf den Ruinenresten des Vorgängerbaus hingeklotzt worden. Es musste schnell gehen, denn die Wohnungsnot war groß.
Das Haus gibt es längst nicht mehr; es wurde bereits nach 20 Jahren abgerissen. Auch von der alten Train-Kaserne sind kaum noch Spuren zu finden. Seit den 1970er Jahren ist an dieser Stelle der Südpark.
Mit den wachen Sinnen eines Neunjährigen nahm ich mein Umfeld mit seinen Menschen wahr. Heute weiß ich, dass viele von ihnen ein schweres Schicksal aus den stürmischen Jahren der Nazi-Tyrannei und des Krieges mit sich trugen, ...und der eine oder andere hatte sich schuldig gemacht.
Das Haus Südstraße 100 war unser Mittelpunkt. Hier lebte meine Familie, von hier aus ging es zum Spielen auf die Straße, aufs Kasernengelände oder zu den Trümmergrundstücken. Ich besuchte die Josefsschule und war sonntags zur Messe in der Josefskirche. Dass nachmittags auch noch zur ,Christenlehre' gegangen werden musste, nahm ich etwas widerwillig als notwendiges Übel hin.
In dem neuen Mehrfamilienhaus kannten sich die Mieter - allerdings nur oberflächlich. Man hatte zwar im Frühjahr 1953 gemeinsam das Haus bezogen, aber jeder hatte in den Nachkriegsjahren genug mit sich selbst zu tun, so dass es zu keinen weiteren privaten Kontakten kam.
Unter uns wohnte Frau Lenking, eine jüngere, alleinstehende Frau, zu der sich einige Zeit später ein Mann - Soldat der neugeschaffenen Bundeswehr - gesellte. Sie war geschieden, was in jener Zeit – insbesonders in Münster - einen unschicklichen Makel darstellte. Man ließ sich einfach nicht scheiden, man hielt um jeden Preis durch…
Ich weiß heute nicht mehr, ob ich je einen Satz mit ihr gesprochen habe. Vielleicht gab ich ihr einmal im Auftrage meiner Mutter geliehenes Mehl oder ein paar Eier zurück.
Daneben lebte der pensionierte Studienrat Brinkaus, der sich mit einer jüngeren, verwitweten Frau und deren Tochter die Wohnung teilte. Sie gehörte zu seinen ehemaligen Schülerinnen. Herrn Brinkaus empfand ich als unnahbar, vielleicht hat er mich kleinen Dötz auch gar nicht zur Kenntnis genommen. Er hockte tagsüber am geöffneten Fenster - ein Kissen unter den Ellenbogen - und beobachtete das Treiben auf der Straße. Bei ihm gingen oft Männer ein und aus. Darüber machte ich mir keine weiteren Gedanken - warum auch? Mein älterer Bruder klärte mich später über dessen Homosexualität auf. Damals etwas Verbotenes, das unter Strafe stand.
Neben uns wohnte die Familie Kartsch. Frau Kartsch hatte ein künstliches Gebiss, das sie mit Persil reinigte. Woher ich das weiß? Meine Mutter hatte darüber gesprochen, und was sie sagte, beeindruckte mich ungemein…, das mit dem Gebiss und dem Persil. Insgeheim stellte ich mir Frau Kartsch mit einem aufgerissenen, schäumenden Mund vor. Wenn ich Frau Kartsch auf der Treppe sah, musste ich unwillkürlich an die künstlichen Zähne denken, die mir entgegenblinkten.
Ihr Mann war Eisenbahner und hatte somit einen angesehenen, gesicherten Beruf. Er war so etwas wie ein Beamter.
Über uns wohnte die Witwe Woznicki mit ihrem Sohn Herbert. Er war Student und wurde später Richter.
Frau Woznicki war eine stille, liebenswürdige Frau. Sie war immer ganz in Schwarz gekleidet, als käme sie gerade von einer Beerdigung oder ginge dort hin. Für mich war sie eine sehr, sehr alte Frau. In Wirklichkeit wird sie keine 60 Jahre alte gewesen sein.
Die Frau auf dem nebenstehenden Foto ist meine Großmutter Helene. Ich zeige dieses Bild, weil beide Frauen im Aussehen eine gewisse Ähnlichkeit aufweisen.
Ich habe an dieser Stelle nicht alle acht Hausparteien in meine Beschreibung aufgenommen. Entweder sind mir die Personen nicht mehr erinnerlich, oder ich weiß zu wenig über sie zu berichten.
Im weiten Umkreis war lediglich ein Gebäude unzerstört geblieben, und zwar das Haus Südstraße 89. Es lag unserem Haus genau gegenüber.
Meine beiden Brüder und ich hatten unsere Betten damals hoch oben in einer Mansarde und somit beste Aussicht aufs Nachbarhaus. Hier wohnte mein Klassenkamerad Siegfried Löckenholt mit seinem älteren Bruder, der Schwester und der verwitweten Mutter. Im Parterre hatten zwei ältere Damen, Siegfrieds Tanten, ihre Wohnung. Im Eingangsbereich des Hauses lag ein schöner Mosaiksteinboden mit der Jahreszahl 1906 oder 1907. Ein eindrucksvolles Gebäude mit großem, verzierten Giebel, kleinen Erkern und einem Balkon, typisch für die Bauweise zur Jahrhundertwende.
Siegfrieds Bruder kam auf tragische Weise auf der Friedrich-Ebert-Straße - also ganz in der Nähe seines Elternhauses - ums Leben. Mit dem Motorroller hatte er in einer leichten Kurve den Bordstein touchiert, stürzte und war auf der Stelle tot. Die Schreie und das herzzerreißende Weinen der Schwester hörte ich bis ins Mansardenzimmer hinauf. - Ein andermal sah ich, wie ein Leichenwagen vor dem Haus parkte. Eine Tante von Siegfried - sie war geistig behindert - war gestorben. Ihre Leiche wurde in einem Sarg aus dem Haus gebracht. Ich war berührt.
Pure Erotik in jenen Jahren? Ja, auch diese wurde geboten, als nämlich Siegfrieds Schwester auf dem Balkon ihre Strümpfe nestelnd am Strumpfband befestigte. Für einen braven Neunjährigen ein unglaubliches Ereignis!
Viele meiner Klassenkameraden hatten keinen Vater mehr. Die Väter waren entweder gefallen, vermisst oder in Gefangenschaft geraten. Für mich war das alles ganz normal und selbstverständlich. Wieso und woher sollte ich es anders kennen? Verwitwete, alleinstehende Frauen, Männer mit fehlenden Gliedmaßen und anderen Verletzungen, Trümmergrundstücke und gefährliche Kriegshinterlassenschaften gehörten zur Normalität des Alltags.
Die Kriegsversehrten bekamen oft nicht die notwendigen Prothesen oder andere Hilfsmittel. Und so gehörte es zum alltäglichen Straßenbild, dass diese Männer sich nur mühsam auf Krücken fortbewegen konnten.
Ich erinnere mich an den einarmigen Metzger Bernhard Tewes von der Südstraße, den ich wegen seiner Geschicklichkeit bewunderte. Denn trotz seiner Behinderung konnte er ein Kotelett mit einem Beilhieb meisterlich vom Rippenstück lösen.
Bereits vor der Zerstörung war das Südviertel eng bebaut. Hier wohnten die ,einfacheren' Leute, darunter viele Eisenbahner, die von hier aus einen kurzen Weg zu ihrer Arbeitsstätte hatten. - Das nebenstehende Bild zeigt die Augustastraße, fotografiert in Richtung Hammer Straße. Rechts geht es in die Südstraße. Auf den späteren Trümmern des abgebildeten Eckhauses habe ich gespielt. Es war das Nachbarhaus der Südstraße 100.
Fast 70 Jahre sind seither vergangen. Vieles ist aus dem Bewusstsein verdrängt, oder ich weiß es nicht mehr. Daher ist es mir wichtig, daran zu erinnern, wie es einmal war. Etwas Demut ist wünschenswert, ...und nicht alles, was unser heutiges Leben ausmacht, ist selbstverständlich. - Aber wenn Sie mich fragen, ob meine Kindheit glücklich war, dann kann ich dies aus vollem Herzen bejahen.
Weitere autobiographische Beiträge finden Sie hier:
Dr. med. Rudolf Biene schreibt:
…Doch dieser Bericht berührt mich tief... In mancher Hinsicht könnte statt Südstraße 100 auch Hamburger Straße 14 (erbaut und von uns bezogen im Mai 1954) stehen. …Und dann die vielen "Kriegsbeschädigten". Mir immer sehr vertraut. Mein Vater war oberschenkelamputiert, ein Onkel doppelamputiert (links Oberschenkel, rechts Unterschenkel). Und Herr Wegmann, unser Klassenlehrer in der Sexta a des Paulinums, auch (Unterschenkel)…
Quellen
Text und Idee: Henning Stoffers
Fotos: Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Die Namen der Nachbarn und andere Details wurden etwas verfremdet.