Juni 2020

Liebe Leserin, lieber Leser,

am 2.4.1945 rücken britische und amerikanische Truppen in die Stadt ein. Von diesem Tag an ist für Münster der Krieg beendet. Großflächige Trümmerwüsten prägen das Stadtbild. Von der Schönheit vergangener Zeiten ist nichts mehr zu erahnen.

 

Wie es einige Monate später in Münster war, habe ich mit diesem Beitrag festgehalten. Wegen der großen Themenfülle muss ich mich auf das Wesentliche beschränken.

 

Ihr Henning Stoffers


Vor 75 Jahren - Münster im Sommer 1945

Nach dem Kriegsende im April sind einige Monate vergangen. Der Sommer hat begonnen.

 

Eine neue Zeit, eine Zeitenwende, ist angebrochen. Die Menschen sind traumatisiert vom Erlebten. Angehörige sind im Krieg, bei Bombenangriffen  getötet oder verletzt worden. Viele Bürger haben materiellen und unsäglichen körperlichen und seelischen Schaden erlitten. Zukunftsängste überschatten den Alltag, es geht ums schiere Überleben.

 

Die albtraumhafte Zeit des Naziregimes mit seinen Verbrechen ist vorbei. Die Strukturen des neuen demokratischen Staates sind in diesen Monaten noch nicht erkennbar. Das Land mit seinen Menschen befindet sich in einem Schwebezustand voller Ängste, Hoffnungen und Erwartungen, was die Zukunft bringen mag.

Servatiiplatz im Sommer 1945 -  Foto Carl Pohlschmidt ULB Münster
Servatiiplatz im Sommer 1945 - Foto Carl Pohlschmidt ULB Münster

Eine Bestandsaufnahme

Neue Westfälische Zeitung 29.6.1945
Neue Westfälische Zeitung 29.6.1945

Der von den Nazis ins Amt gehobene Oberbürgermeister Albert Hillebrand (1933-1945) wird abgesetzt. Er stirbt 1960 in Münster.

 

Dr. Alfred Meyer, Gauleiter Westfalen-Nord, Oberpräsident und Teilnehmer der Wannsee-Konferenz zur Judenvernichtung, begeht 1945 Suizid.

 

Adolf Hitler und Alfred Rosenberg werden die Ehrenbürgerrechte der Stadt Münster aberkannt. Bei Hitler erfolgt die Aberkennung vorsorglich, weil man sich nicht sicher ist, ob er noch lebt.

 

Die Straßen, die nach Nationalsozialisten benannt waren, erhalten unverzüglich ihre ursprünglichen Bezeichnungen zurück:
die Adolf-Hitler-Straße wird wieder die Bahnhofstraße,
die Hermann-Göring-Straße wird wieder die Nordstraße,
die Horst-Wessel-Straße wird wieder die Hafenstraße
und die Albert-Leo-Schlageter-Straße wird wieder die Südstraße.
Die Kirdorfstraße – ursprünglich Industriestraße – wird zur Friedrich-Ebert-Straße umbenannt.

Der Prinzipalmarkt im Juni 1945
Der Prinzipalmarkt im Juni 1945

Die notwendige Infrastruktur für das tägliche Leben liegt in Trümmern. Zerbombte Häuser, geborstene Wasser- und Gasleitungen und das defekte Stromnetz sind in den meisten Vierteln noch nicht repariert. Eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln wird immer schwieriger.

 

Die Behörden sind kaum funktionsfähig, ein Großteil des Personals aus der Nazizeit muss ausgetauscht werden.

 

Tiefgreifende Veränderungen stehen an: Eine neue Verwaltungsstruktur wird geplant. Demokratische Regeln stehen vor der Einführung.

 

Im April zählt die Stadt 26.000 Einwohner. Ein starker Zuzug hat begonnen. Bereits im Herbst werden 79.000 Menschen gezählt.

 

Gerüchte machen die Runde. Hitler sei am Leben und nach Japan entkommen. Später hieß es, mit Hilfe von Dönitz wäre er mit seiner Sekretärin Eva Braun vermutlich nach Spanien geflohen. Aberwitzig auch das Gerücht, eine Armee sei in Hamburg aufgestellt worden, die nur auf neue Waffen warten würde. - Hier zeigt sich, wie groß die Verunsicherung und Desinformation der Menschen ist. Heute sind aus Gerüchten und Behauptungen die ,Fake News' geworden, die zu allen möglichen Themen verbreitet werden.

Der tägliche Mangel

Neue Westfälische Zeitung 29.6.1945
Neue Westfälische Zeitung 29.6.1945

Die Menschen leiden unter dem Wassermangel und bangen um die Wasserqualität. An Hydranten und Tankwagen muss angestanden werden, um einen Behälter gefüllt zu bekommen. Gas oder Kohle zum Kochen gibt es nicht, und so muss Holz für den Herd gesammelt werden. Die Haushaltsführung und das Zubereiten von Speisen erfordern von der Hausfrau viel Kreativität, um die vielfältigen Probleme zu meistern.

 

Mit dem fehlenden elektrischen Licht kann man sich aufgrund der bestehenden Sommerzeit - es bleibt abends länger hell - besser arrangieren. Aber wie wird es in der dunklen Jahreszeit werden?

 

Zur Mangelware gehören auch die Zeitungen. Münsters Lokalzeitungen - die Westfälischen Nachrichten und die Münstersche Zeitung - erscheinen noch nicht. Stattdessen wird unter Regie der Besatzungsmacht jeden Freitag die Neue Westfälische Zeitung in Oelde gedruckt. Die Zeitung findet reißenden Absatz. Der Hunger nach Information ist groß.

Hamstern und Schwarzmarkt

Schwarzmarkt am Bahnhof -  Foto Carl Pohlschmidt ULB Münster
Schwarzmarkt am Bahnhof - Foto Carl Pohlschmidt ULB Münster

Das Wichtigste fürs Leben der Menschen sind Wohnungen, Essen und Trinken sowie Kleidung. Diese elementaren Voraussetzungen fehlen in dieser Zeit besonders.

 

Ein Großteil der Wohnungen ist zerstört, die Versorgung mit Lebensmitteln liegt darnieder. Man fährt - möglichst mit dem Bollerwagen - zum Hamstern zu den umliegenden Bauern. Ein Pelzmantel wechselt gegen einen Schinken den Besitzer, der Ehering wird gar gegen ein paar Eier getauscht.

 

Auch dies gehört zum Alltag: Aus alten Wehrmachtsuniformen werden ,zivile' Kleidungsstücke geschneidert. Diebstähle und Einbrüche nehmen zu. Sogar Kühe werden auf der Weide abgeschlachtet.

 

Die Schwarzmärkte florieren. Getauscht werden Zigaretten, Lebensmittel, Wertsachen, Kleidung. All das, was der eine hat und der andere braucht und umgekehrt, findet Absatz auf dem Schwarzmarkt.

Neue Westfälische Zeitung 6.6.1945
Neue Westfälische Zeitung 6.6.1945

Aufgrund der desolaten Versorgungslage - 1000 Kalorien stehen jedem zu - drohen Seuchen, wie zum Beispiel Tuberkulose. Es gibt Meldungen, dass sich die Krätze ausbreitet; eine Krankheit, die insbesondere bei schwierigen hygienischen Verhältnissen ausbricht. Das medizinische Personal fehlt anfangs an allen Ecken und Enden. Die Rückkehr von Wehrmachtsärzten aus dem Krieg wirkt sich positiv auf die Gesundheitsversorgung aus.

Wohnungsnot

Zerstörtes Wohnhaus in der Hörsterstraße
Zerstörtes Wohnhaus in der Hörsterstraße

Ganz problematisch stellt sich die Wohnsituation dar. Zum Teil leben die Menschen in Notbehelfen, zum Beispiel in Kellern Bunkern und Ruinen. Wenn eine freie Bleibe mit Zustimmung des Wohnungsamtes ergattert wird, spielt es zunächst keine Rolle, wem die Wohnung gehört. Es kommt zu harten Streitereien, wenn der Eigentümer oder Mieter seine Wohnung besetzt vorfindet.

Das Wohnungsamt ist bei der Verwaltung und Zuweisung von Wohnraum überfordert und nicht Herr der Lage. Der rasante Zuzug von Flüchtlingen und heimkehrenden Bürgern - vor dem eindringlich gewarnt wird - verschlimmert zusätzlich die angespannte Lage.

 

Die Familie der Frieda Gräfin Merveldt überlebt den Krieg außerhalb von Münster unversehrt. Als die Gräfin mit ihren drei Kindern 1945 zurückkehrt, findet sie ihr Haus in der Heerdestraße 11 von der Stadt Münster beschlagnahmt und von fremden Menschen bewohnt vor. Lediglich ein Zimmer wird der Familie zum Wohnen zugewiesen. Erst 1948 erhalten sie ihr Eigentum zurück.

Räumaktion

Räumaktion an der Salzstraße  - Foto Carl Pohlschmidt ULB Münster
Räumaktion an der Salzstraße - Foto Carl Pohlschmidt ULB Münster

Zu den dringendsten Aufgaben gehört die Beseitigung der Trümmer. 2.200.000 cbm Schutt, Ziegelsteine, Betonreste, Balken, Hausrat, einsturzgefährdete Gebäude und Gebäudeteile, versteckte Blindgänger müssen geräumt werden. Die vielen Bombentrichter sind mit dem Schutt zu verfüllen.

 

Räumaktion an der Bahnhofstraße - Foto Carl Pohlschmidt ULB Münster
Räumaktion an der Bahnhofstraße - Foto Carl Pohlschmidt ULB Münster

Der Chronist Paulheinz Wantzen notiert:
,Seit dem 15.6. ist der frühere Oberbürgermeister Dr. Zuhorn kommissarisch wieder im Amt, vielleicht kommt nun etwas mehr Schwung in die Aufräumungs- und Aufbauarbeiten; es wäre wahrlich die allerhöchste Zeit.'

 

Mitte 1945 beginnt die erste Schippaktion - eine Selbsthilfeaktion zur Beseitigung der Trümmer. Dazu hat der Oberbürgermeister Dr. Zuhorn die Bürgerschaft aufgerufen. In den Abendstunden solle freiwillige Aufräumarbeit geleistet werden. Die Mitarbeit müsse für jeden Bürger Ehrensache sein. Zuhorn gibt aber auch zu verstehen, dass Pflichtarbeit angeordnet werden könne, wenn das Ziel nicht auf freiwilliger Basis zu erreichen sei. Ein Jahr später wird eine Zwangsverpflichtung erlassen.

 

Besonderer Dank gebührt den Frauen und Müttern, die als Trümmerfrauen ihren Beitrag leisteten. Sie standen vor großen Herausforderungen, insbesondere auch dann, wenn die Wohnung zerstört war, und Kinder und Angehörige versorgt werden mussten.

Der Stadthafen ohne Wasser - Sommer 1945
Der Stadthafen ohne Wasser - Sommer 1945

Das Wasser des Dortmund-Ems-Kanals und des Hafens wird abgelassen, um Blindgänger zu beseitigen und Reparaturarbeiten an den Böschungen auszuführen. Bereits ein Jahr später können Kanal und Hafen wieder in Betrieb genommen werden.

Zaghaftes öffentliches Leben beginnt

Ein großes Ereignis findet erstmalig am 30.6. im Schlossgarten statt. Es ist das erste Konzert nach dem Krieg, das öffentlich aufgeführt wird. Der damalige Generalmusikdirekter Karl Dressel nimmt auf dem nachstehenden Foto die Schaufel tatkräftig zur Hand. Die Stadthalle an der Neubrückenstraße besteht nur noch aus einem riesigen Trümmerhaufen.

Neue Westfälische Zeitung 19.7.1945
Neue Westfälische Zeitung 19.7.1945
Generalmusidirektor Karl Dressel rechts mit der Schippe an der Stadthalle - Foto Carl Pohlschmidt-ULB Münster
Generalmusidirektor Karl Dressel rechts mit der Schippe an der Stadthalle - Foto Carl Pohlschmidt-ULB Münster

Das städtische Orchester unter der Leitung von Karl Dressel will den Einwohnern nach längerer Zeit wieder einen Kunstgenuss bereiten. Mit den Eintrittsgeldern soll die Herrichtung der Stadthalle unterstützt werden. Wie groß der Wunsch der Münsteraner nach einem Konzert ist, zeigt die sehr hohe Zahl von 3000 Besuchern. Einen Wermutstropfen gibt es allerdings zum Schluss: Britische Soldaten halten den einzigen Ausgang für eine stundenlange Ausweiskontrolle der Besucher gesperrt.


Ein Nachsatz

Die Monate nach dem Kriegsende waren eine schwere, unruhige Zeit. Es gab im Münsterland und anderswo Morde, Vergewaltigungen, Plünderungen und andere Gräueltaten. Flüchtlinge suchten eine neue Bleibe. Auch darüber, aber insbesondere über die alltäglichen Dinge, berichtet der Chronist Paulheinz Wantzen - ehemaliger Redakteur der Münsterschen Zeitung - in seinen Aufzeichnungen.

 

Wantzen war zwar nicht Mitglied der NSDAP, dennoch stand er dem Regime sehr nah. Seine Ausdrucksweise ist teilweise geprägt vom nationalsozialistischen, menschenverachtenden Vokabular. Dennoch müssen die Aufzeichnungen bei aller Vorsicht als wichtiges, akribisch zusammengetragenes Zeitdokument betrachtet werden.

Zuschrift

Mein Freund Wilfried ,Schrolli' Schroeder schreibt mir:

Über ein Erlebnis in den 60er Jahren.

Ich arbeitete in diesen Jahren für eine kurze Zeit bei der Malerfirma Drecker auf der Burgstraße. Wir hatten viel zu tun im neuen Postamt an der Warendorfer Straße. Es kam dabei auch während der Arbeit zur Unterhaltung:

Der Polier der Firma erzählte ganz ohne Emotionen, dass man die Polen, die in und um Münster kurz nach Kriegsende wohl "plündernd" umherstreiften, entweder erschoss oder mit dem Gewehrkolben erschlug. Auch dieser Polier war Täter und fand das ganz normal.

 

Als er dies erzählte war ich einfach ein Zuhörer und 18 Jahre alt. Das Gehörte hat mich sehr berührt und ich habe es nie vergessen.


Quellen

Text und Idee: Henning Stoffers

Literatur:

Paulheinz Wantzen - Das Leben im Krieg 1939-1946

Ausgaben der Neuen Westfälischen Zeitung

Fotos, sofern nicht anders angeben:

Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)