es ist das Jahr 1937. Eine Frau - verwitwet, vier Kinder - wird behördlich als Luftschutzwart verpflichtet. Sie ist verantwortlich für das Haus Heerdestraße 11 und für vier weitere Häuser. Anhand von Dokumenten aus den 1930er und 1940er Jahren lässt sich die damalige Sitation rund um den Luftschutz eindrucksvoll widerspiegeln.
Erstaunlich ist der frühe Beginn der Ausbildung für den zivilen Luftschutz - zwei Jahre vor Kriegsausbruch. Das behördliche Vorgehen und das rigorose Durchsetzen der Maßnahmen waren bestens organisiert.
Ihr Henning Stoffers
Alle Dokumente können durchs Anklicken vergrößert werden. Dieser Beitrag besteht aus vier Abschnitten mit mehreren Unterabschnitten:
Kurze Einführung
Heerdestraße 11 und der Luftschutz
- Die
Ausbildung zum Luftschutzwart
- Die Luftschutzgemeinschaft
- Die Aufgaben der Gräfin von Merveldt
- Der
Luftschutzkeller Heerdestraße 11
Über den Luftschutz
- Der Luftschutzkeller
-
Sanitätsausstattung und Giftgas
Anmerkungen
- Ängste - Erinnerungen - Nach dem Krieg
Für die münstersche Bevölkerung waren im Stadtgebiet etliche Bunker errichtet worden, die Schutz vor Spreng- und Brandbomben und Giftgasangriffen bieten sollten. Daneben gab es Schutzräume in Kellern vieler Häuser. Damit Keller als solche infrage kamen, mussten die Voraussetzungen erfüllt sein, die in Verordnungen bis ins Kleinste geregelt waren.
Für die Durchführung und Organisation der Schutzmaßnahmen wurden Luftschutzwarte*, Personen für die Hausfeuerwehr, Laienhelferinnen und Melder verpflichtet. Für die jeweiligen Aufgaben waren Merkblätter erstellt worden, die die Aufgabenfelder klar umrissen.
*Die weibliche Form ,Luftschutzwartin' wurde damals nicht verwendet. Ich habe die männliche Form beibehalten.
Und es hieß:
Frieda Gräfin von Merveldt, geboren 1897, war seit 1931 verwitwet und hatte vier Kinder (Juliane, Hubertus, Gabrielle und Wilderich). Sie wohnte in der Heerdestraße 11 und arbeitete als Dolmetscherin und als Sprachlehrerin.
Im Frühjahr 1937 wurde Gräfin Merveldt zum Besuch eines Ausbildungslehrgangs aufgefordert. Sie war der Polizei als ,Selbstschutzkraft' gemeldet worden. Sie müsse sich am 13. April pünktlich um 20 Uhr im Schillergymnasium einfinden. Dieser Anordnung konnte sich nur schwerlich widersetzt werden.
In dem Bescheid wurde Bezug auf das Luftschutzgesetz von 1935 genommen, das zur Mitwirkung verpflichtete. Rückseitig gab es Zitate aus dem betreffenden Gesetz mit Verweis auf mögliche Strafen bei Nichtbefolgung.
Penibel hielt der Kursusleiter ihre Teilnahme zu den verschiedenen Terminen auf dem Vordruck fest. Sie wurde anschließend als Luftschutzwart vorgeschlagen.
Frieda erhielt 1937 den Ausweis mit der Nummer 4438 und war für das Revier V, Untergruppe 18, Block 4 als Luftschutzwart zuständig.
Auch ihre Kinder bekamen Aufgaben zugewiesen. Die 24-jährige Tochter Juliane absolvierte im gleichen Jahr die Luftschutz-Ausbildung und wurde später als Laienhelferin eingesetzt. Ihr Sohn Hubertus bekam auch eine Funktion zugewiesen und fungierte als Melder.
Polizeiliche Verfügung an Gräfin Merveldt zur Ableistung von Luftschutz-Dienstleistungen
Die Häuser Heerdestraße 3 bis 11 bildeten eine Luftschutzgemeinschaft, für die Gräfin Merveldt als Luftschutzwart zuständig war. Zugeordnet waren ihr fünf behördlich verpflichtete Personen: für die Hausfeuerwehr, zwei Laienhelferinnen und zwei Melder.
Die Bewohner der linken Seite der Heerdestraße aus dem Einwohnerbuch von 1939. Aufgeführt sind lediglich der Familienvorstand - in der Regel der Ehemann - und alleinlebende Personen.
Wie den Eintragungen zu entnehmen ist, lebte in der Heerdestraße eine gehobene, gutsituierte Gesellschaftsschicht.
Das Tätigkeitsfeld, das auf Gräfin Merveldt als Luftschutzwart zukam, war vielfältig und umfangreich. Organisationstalent, Vorbildfunktion, Motivationsvermögen, Durchsetzungskraft, Zähigkeit und Kreativität waren von ihr gefordert.
Ihre anvertrauten Mitglieder der ,Luftschutzgemeinschaft' waren zu beraten und vorzubereiten, was im Falle eines Alarms und nach dem Luftangriff zu tun sei. Es musste vorbereitend dafür gesorgt sein, dass u.a. der Raum entrümpelt ist, eine Mindestmenge Wasser und Gerätschaften zur Brandbekämpfung vorhanden sind.
Es mag keine leichte Aufgabe für Gräfin Merveldt gewesen sein, junge und alte Menschen mit all ihren unterschiedlichen Charakteren zu motivieren, damit sie die Erfordernisse akzeptierten und sich dem Luftschutzwart anvertrauten. Viele Widerstände mussten überwunden werden.
Das Merkblatt für den Luftschutzwart - es sollte auf starke Pappe aufgeklebt werden - gibt detailliert die Aufgabenfülle wider.
Das Haus Heerdestraße 11 hatte einschließlich Keller vier Geschosse. Der ausgewählte Kellerraum - 16 qm groß - war nicht ausgebaut und nur behelfsmäßig eingerichtet. Für einen Schutzraum wurde er dennoch als geeignet beurteilt. Der Rauminhalt betrug etwas mehr als 33 cbm. Der Keller war für die Häusergemeinschaft Heerdestraße 7, 9 und 11 als Schutzraum ausgewiesen.
Neben der Gräfin waren zwei weitere Personen mit ihrer Ausweisnummer aufgeführt. Als Zuständige für die Hausfeuerwehr war Fräulein Bernhardine Niehaus benannt.
Ebenfalls wurde dokumentiert, ob und welche Luftschutzausbildung die angegebenen Bewohner erhalten hatten, und ob sie als Luftschutzkraft zur Verfügung stünden.
Alle Informationen gingen an die Staatsorgane und waren Teil der systematischen Überwachung. Nicht dem System genehme Personen, wie zum Beispiel nicht arbeitende Menschen, Juden oder Sinti, erhielten keinen Zutritt zu Bunkern und Schutzräumen und waren somit den Luftangriffen schutzlos ausgeliefert.
Am 17.8.1939 - 13 Tage vor Ausbruch des 2. Weltkrieges - trat eine weitere Verordnung für Luftschutzmaßnahmen für bestehende Gebäude in Kraft. Hier war bis ins kleinste Detail geregelt, was für den Luftschutz wichtig ist.
Der Luftschutzraum musste bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Es gab praktische Erläuterungen zu möglichen Schutzmaßnahmen. Zum Beispiel zur Einrichtung einer Gasschleuse, zum Bau einer Splitterschutzvorrichtung oder zur Abstützung einer Kellerdecke.
Wieviele Personen in einen Luftschutzkeller aufgenommen werden konnten, wurde mit einer einfachen Formel ermittelt. Es musste lediglich der Rauminhalt berechnet werden. Bei einem 16 qm großen Raum ergibt sich ein Rauminhalt von etwa 33 cbm. Für jede Person waren 3 cbm vorgesehen. Somit bestand rechnerisch Platz für 11 Menschen - junge und alte, dicke und dünne, große und kleine, kranke und hilfsbedürftige wie auch stillende Mütter mit ihren Babys.
Für die Toilettenbenutzung befand sich in einer Ecke des Kellers ein Eimer. Dieser Bereich wurde lediglich mit Vorhängen abgeschirmt.
Zur Vermeidung unangenehmer Gerüche stand neben dem Eimer ein weiterer Behälter mit Sand oder Erde. Eine kleine Schaufel lag griffbereit in nächster Nähe.
In der nahegelegenen Kreuz-Apotheke konnten die ,Luftschutz-Sanitäts-Geräte' erworben werden. Der vorliegende Prospekt wies darauf hin, dass die Ausgaben steuerbegünstigt geltend gemacht werden konnten.
Verschiedene Ausführungen der Sanitätstaschen wurden zu amtlich festgesetzten Preisen angeboten:
Auf die Bedrohung durch Giftgase war man nach den Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg eingestellt. Das abgebildete Merkblatt informiert tabellarisch über die Wirkung und über mögliche Maßnahmen.
Über die Ängste der Bevölkerung in den vom Luftkrieg betroffenen europäischen Ländern vermag man sich heute kaum eine Vorstellung zu machen. Mehr oder weniger fremde Personen befanden sich eingeschlossen auf engstem Raum. Sie hörten das mahlende Geräusch der nahenden Flugzeuge, das sirrende Niederrauschen der Bomben, sie spürten die Erschütterungen der Explosionen. Sie standen Todesängste aus. Und natürlich stellten sich bange Fragen ein. Wie mochte es Angehörigen und Freunden anderswo ergangen sein? Was war mit dem eigenen Hab und Gut nach dem Bombenangriff geschehen? Nach einigen Stunden Aufenthalt im Schutzraum kam die Entwarnung. Ein einminütiger Dauerton der Sirenen war das Signal. Es konnte wieder frische Luft eingeatmet werden, es sein denn, Qualmwolken zerstörter Häuser nebelten die Umgebung ein
Meine Mutter erzählte, wie sie mich zwischen zwei Bombenangriffen zur Welt gebracht hatte, und wie sie später mit mir als Säugling im Arm und meinem Bruder an der Hand in den Luftschutzkeller flüchtete. Die Ängste, verschüttet zu werden, zu sterben, waren groß. Mein Vater war Soldat in Russland und konnte seiner Familie nicht beistehen. Er erlitt eine schwere Verletzung durch einen Granatsplitter.
Wie es uns ergangen war, so hat es auch ein Großteil der Bevölkerung - und oft sehr viel schlimmer - erlebt. Viele junge Frauen, deren Männer als Soldaten im Felde standen oder gefallen waren, mussten sich mit ihren Kindern allein dem Überlebenskampf stellen.
Ich erinnere mich an die vielen Spiel- und Klassenkameraden, deren Väter im Krieg geblieben waren. In dem Mehrfamilienhaus - in dem wir wohnten - und im näheren Umfeld lebte eine größere Zahl verwitweter Frauen. Dies war damals für uns Kinder etwas Selbstverständliches, worüber wir nicht weiter nachdachten.
Wir spielten in der Nähe eines mit Erde bedeckten Bunkers. Wir fanden eine alte Feuerlöschspritze aus einem Luftschutzkeller, die ein herrliches Spielzeug für uns war. An einigen wenigen unzerstörten Häusern gab es an den Wänden Markierungen in weißer Farbe, die auf einen Luftschutzraum hinwiesen.
Gräfin Merveldt überlebte den Krieg. Sie starb 1972. Ihr Haus in der Heerdestraße blieb unbeschädigt.
Den Bombardierungen fielen in Münster 1.600 Personen zum Opfer. Sie starben in Bunkern, in Luftschutzkellern, in ihren Wohnungen oder auf der Straße. Unzählige Menschen wurden verletzt und traumatisiert.
Die Stadt Münster glich zum Kriegsende einer Trümmerwüste. Münster hatte im April 1945 lediglich 26.000 Einwohner.
Quellen + Dank
Text und Idee: Henning Stoffers
Fotos: Sammlung Henning Stoffers
Gräfin Gabrielle von Merveldt
bin ich zu großem Dank verpflichtet. Sie überließ mir Familienfotos und gab mir wertvolle Informationen.
Markus Kaiser
danke ich sehr herzlich für die Bereitstellung der Dokumente. Ohne ihn wäre diese Dokumentation nicht möglich gewesen.