Liebe Leserin, lieber Leser,

,Wann schreiben Sie eine Geschichte über das Kuhviertel?', fragte mich ein Leser. Nun ist es soweit, und ich freue mich, Sie ins Kuhviertel entführen zu können.


Frau Maria Theresia Seidel danke ich für das schöne Bildmaterial und die interessanten Informationen.

 

Ihr Henning Stoffers


Das Kuhviertel

Ein kleine Welt für sich

Alerdinck: Ausschnitt Stadtplan von 1636 - oben links das Jüdefeldertor mit der Jüdefelderstraße, oben rechts das Kreuztor mit der Kreuzstraße - 6222.284.15
Alerdinck: Ausschnitt Stadtplan von 1636 - oben links das Jüdefeldertor mit der Jüdefelderstraße, oben rechts das Kreuztor mit der Kreuzstraße - 6222.284.15

Das Gebiet

Stadtplan 1864 - 6222.284.15
Stadtplan 1864 - 6222.284.15

Das Kuhviertel ist ein kleines Stadtgebiet. Eng umgrenzt von der Münzstraße, der Überwasserkirche, der Frauenstraße und dem Schlossplatz umfasst es nur wenige Straßen. Das alte Kuhviertel ist von seiner Eigenart und von seinem besonderen Charakter her eine kleine Welt für sich.

 

Dort, wo sich heute an der Münzstraße das Gebäude des ehemaligen Finanzamtes befindet, war früher die fürstbischöfliche Münze. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde an dieser Stelle eine Kaserne für die Kürassiere eingerichtet. Die sogenannte Münzkaserne hatte hier für knapp 100 Jahre ihren Standort.

 

Der rechts danebenstehende Buddenturm ist der letzterhaltene Wehrturm. Er diente in den Jahrhunderten auch als Gefängnis, als Pulvermühle und als Wasserturm.

Ausschnitt Stadtplan 1903 6222.284.15
Ausschnitt Stadtplan 1903 6222.284.15

Das Kuhviertel war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts verkehrstechnisch gut erschlossen. Die Gleise der Straßenbahn führten über die Rosenstraße, die Frauenstraße, weiter am Schlossplatz vorbei, bis zum Anfang der Steinfurter Straße.

Die Bewohner damals

Ein Teil des Viertels hatte einen schlechten Ruf. Im 19. Jahrhundert wohnten hier soziale 'Randgruppen' der Gesellschaft. Mit diesen Leuten aus dem 'Ganovenviertel' wollte der gut situierte Bürger nichts zu tun haben. So gab es auch den Spruch: ,Tasche, Brink und Ribbergasse - Messerstecher erster Klasse!'.

 

Landfahrer, Hausierer, Gaukler und Kirmesleute lebten von ihrer Arbeit mit der Hand in den Mund. Im Winter wurden Körbe geflochten und Bürsten hergestellt, um sie in den wärmeren Jahreszeiten an den Haustüren zu verkaufen.

 

Gesprochen wurde das rotwelsche Masematte (Zum Beispiel: Was schmust der Osnik? = Wie spät ist es?). Hier hatten Sinti, Jenische und jüdische Familien ihr Zuhause. Die Bausubstanz vieler Häuser war marode und baufällig, die sanitäre Situation katastrophal. Es gab etliche Armenhäuser, - am Rande des Gebietes aber auch Adelshöfe.

 

Der nebenstehende Auszug der Kuhstraße aus dem Einwohnerbuch von 1909 zeigt, dass viele Handwerker und 'einfachere' Berufsangehörige hier zu Hause waren. Nebenbei: Was mag die Tätigkeit eines Aktenhefters (Hausnummer 15) gewesen sein? Aber auch zwei Freiinnen wohnten in der Kuhstraße. Der in Klammern genannte Freiherr Droste zu Stapel war nicht Bewohner, sondern Eigentümer und Vermieter der Häuser 5, 6, 7, 8 und 9.

 

Johann Conrad Schlaun lebte zeitweise in seinem Stadthaus in der Hollenbeckerstraße 9. Anfang des 20. Jahrhunderts befand sich eine Weinhandlung in diesem Haus. In den 20er Jahren wohnten zwei Gräfinnen von Galen hier. Das Haus wird im Krieg zerstört, - die Hausnummer 9 gibt es nicht mehr. - Der bekannte Ornithologe Professor Bernhard Altum wuchs in ärmlichen Verhältnissen im Kuhviertel auf.

Auch die Schriftstellerin Clara Ratzka möchte ich erwähnen. Das Kuhviertel ist Schauplatz ihres Romans 'Familie Brake'.

 

In der Jüdefelderstraße Nr. 10 wohnten die jüdischen Mitbürger Luise und J. Nußbaum, von Beruf Schneiderin und Kellner. Heute steht an dieser Stelle die Gesamtschule Münster-Mitte. Eine Gedenktafel erinnert an das damalige Geschehen.

Hollenbeckerstraße - Erinnerungen

Maria Theresia Seidel wuchs in den Nachkriegsjahren in der Hollenbeckerstraße auf. Sie schreibt:

Auch die Hollenbeckerstraße, von der die Kuhstraße abgeht, wurde sehr zerstört. Lediglich mein Elternhaus, das alte Schlaunsche Eichenfachwerkhaus Nr. 24, das Nachbarhaus Nr. 25 und das Haus von Müller, in dem sich der Kindergarten und danach eine Kneipe (bis heute) befand, blieben nach dem Bombenhagel stehen. Auch der Schlaunsche Hof - gegenüber meines Vaters Haus - wurde damals zerstört. Ein Gemälde vom Schlaunschen Hof  (Ich glaube vom Glasmaler Schlüter) wurde in der Ecke vor dem Nachkriegs-"Bahn"bau zur Erinnerung aufgemalt.

 

Bild oben links:

Hollenbeckerstr. 24 - Das Schlaunsche Gesindehaus vor dem Krieg. Mein Opa (Schuhmachermeister) wohnte oben, unten hatte er das Haus an den Künstler Hubert Teschlade vermietet. - Foto Maria Seidel

Meine Mutter erzählte mir, dass die Hollenbeckerstraße nach dem Krieg zunächst nur ein kleiner Pfad zwischen den Trümmern war. Soweit ich mich zurück erinnern kann, war inzwischen schon viel wieder aufgebaut.

 

Bild rechts:

Die Hollenbeckerstraße während des Krieges. Die Häuser 24 und 25 wurden nicht zerstört. Am Haus 25 sind Steine an den Kellerfenstern zum Bombenschutz  (Splitter, Luftdruck) angebracht. Es liegt Schnee. Mein Großvater fegt den Schnee vor der Haustür.

- Foto Maria Seidel

Etwa 1952/53 im Garten vom Haus Hollenbeckerstr. 24 mit Steinen von den Kriegstrümmern (Daraus entstand später eine angebaute Waschküche)  - Foto Maria Seidel
Etwa 1952/53 im Garten vom Haus Hollenbeckerstr. 24 mit Steinen von den Kriegstrümmern (Daraus entstand später eine angebaute Waschküche) - Foto Maria Seidel
Überwasser Kommunionkinder (Ich bin die 3. von links). Im Hintergrund die Gaststätte Freitag, links daneben ist heute das Antiquariat Solder. - Foto Maria Seidel
Überwasser Kommunionkinder (Ich bin die 3. von links). Im Hintergrund die Gaststätte Freitag, links daneben ist heute das Antiquariat Solder. - Foto Maria Seidel

Im Garten des Hauses Hollenbeckerstraße 25, wo der Hof-Fotograf Herold sein Atelier hatte. - Foto Maria Seidel
Im Garten des Hauses Hollenbeckerstraße 25, wo der Hof-Fotograf Herold sein Atelier hatte. - Foto Maria Seidel

Aber ich habe noch gute Erinnerungen an das  Spielen mit den Nachbarkindern in und auf den Trümmerbergen; das war eigentlich streng verboten, da meine Mutter immer Angst hatte, dass ich irgendwo einstürze.


Viel später wurde dann ja auch bei Bauarbeiten des neuen Hauses an der Ecke Hollenbecker-, Münzstraße ein alter Eiskeller entdeckt.

Im Garten meines Elternhauses ca. 1952 mit Trümmerresten - Foto Maria Seidel
Im Garten meines Elternhauses ca. 1952 mit Trümmerresten - Foto Maria Seidel
Blick von unserem Garten Richtung Kreuzstraße 1956 (hinten rechts der Buddenturm) - Foto Maria Seidel
Blick von unserem Garten Richtung Kreuzstraße 1956 (hinten rechts der Buddenturm) - Foto Maria Seidel

Hofansicht der Häuser Hollenbeckerstraße 24 und 25, eingeengt zwischen Nachkriegsbauten. - Foto Maria Seidel
Hofansicht der Häuser Hollenbeckerstraße 24 und 25, eingeengt zwischen Nachkriegsbauten. - Foto Maria Seidel

Geschichte der Straßen

Ausschnitt Stadtplan Hundt von 1862 - 6222.284.15
Ausschnitt Stadtplan Hundt von 1862 - 6222.284.15
Hollenbeckerstraße 70er Jahre
Hollenbeckerstraße 70er Jahre

Die Hollenbeckerstraße wird ihre Bezeichnung von einer Familie gleichen Namens erhalten haben, die im 14. Jahrhundert hier wohnte.

Frauenstraße
Frauenstraße

Im Jahre 1040 wurde das der Muttergottes gestiftete Frauenstift Überwasser gegründet. Im Mittelalter hieß die Frauenstraße 'Unserer lieben Frawen Strass' oder auch 'Liebfrauenstraße. Die Täufer nannten sie schlicht 'Weststraße'.


In der Zwölfmännergasse stand bis zur Kriegszerstörung das Zwölfmännerhaus, welches bereits im 12. Jahrhundert erwähnt wurde. Dieses Haus beherbergte 12 Diener der Domkapitulare. Früher war es Sitte, dass der Bischof diesen 12 Männern am Gründonnerstag zur Erinnerung an das letzte Abendmahl die Füße wusch.

 

Die Zwölfmännergasse zwischen Katthagen und Jüdefelderstraße gibt es nicht mehr.

Die Kuhstraße ist die Namensgeberin des Viertels. Diese Straße war im mittelalterlichen Münster vermutlich nur ein kleiner Weg, über den die hier wohnenden Ackerbürger ihre Kühe auf die vor der Stadt liegenden Weiden trieben.

 

Ackerbürger waren Stadtbewohner mit Bürgereigenschaft. Sie betrieben außerhalb der Stadt ihre Landwirtschaft.

Kuhstraße heute
Kuhstraße heute

Die Jüdefelderstraße ist bereits seit einigen Jahrhunderten bekannt. Sie wurde nach dem Jüdefelder Tor benannt, das auf die Bauerschaft Jodefeld an der Gasselstiege verweist. Heute noch gibt es dort den Hof Lütke Jüdefeld.

Kolonialwarengeschäft im Kuhviertel - Ansichtskarte von Ludwig Post
Kolonialwarengeschäft im Kuhviertel - Ansichtskarte von Ludwig Post

Die Jüdefelderstraße ist auch heute noch eine beliebte Einkaufsstraße.

 

Viele Käufer kamen aus den näheren ländlichen Gebieten. Es gab fast alle Artikel des täglichen Lebens: Landhandel Lemper, Blumen Krekeler, Klempner Knemeyer, Eisenwaren Borgmann, Lebensmittel Jansen, Kolonialwaren C.W.Pollack, Textilgeschäft Schlamann, Gaststätten Tenkhoff und Kindermann, Fahrradhandel Kneuertz, Textilgeschäft Kaulmann und Viehhändler, Wurst- und Fleischfabrikant Fritz Schmitz.

Katthagen - Beliebtes Fotomotiv
Katthagen - Beliebtes Fotomotiv
Kolonialwarenladen Hill mit Verkäuferinnen am Katthagen
Kolonialwarenladen Hill mit Verkäuferinnen am Katthagen

Der Katthagen gehörte ebenfalls zum mittelalterlichen Straßennetz. Der Name kann darauf hindeuten, dass an dieser Stelle früher Kriegsmaterial gelagert worden ist. Katten: mittelalterliches Kriegsgerät - Hagen: Gebüsch. Es kann aber auch eine kleinere Befestigungsanlage gewesen sein. Als dritte Möglichkeit käme eine Ableitung von 'Katt' auf 'Katze' infrage. Eine gesicherte Aussage gibt es nicht.

Hierzu schreibt Frau Ilse Eberhardt :

Das Wort "Katt" könnte auf die mittelniederdeutsche Wurzel "katêl" zurückgehen, welche "Vieh" bedeutet - also wäre das auch eine Verbindung zum Ackerbürgertum der Bewohner.

Kreuzstraße
Kreuzstraße

Im Mittelalter bis zur Täuferzeit trugen Männer der Metzgerzunft in einer Prozession ein Kreuz vom Dom durch die Straßen der Stadt, durch ein Stadttor bis nach Kinderhaus und zurück. Das Stadttor wurde daraufhin Kreuztor genannt und die Straße bekam die Bezeichnung Kreuzstraße. Die Namensgebung für das Mitte des 19. Jahrhunderts entstehende Kreuzviertel und für die etwas später erbaute Kreuzkirche ist auf die alte Kreuzprozession zurückzuführen.

Früher hieß die Buddenstraße auch 'Stegge nach dem Bucksplatz'. Ihren Namen hat sie nach dem Buddenturm - einem Wehrturm der alten Befestigungsanlage - erhalten. Das Wort 'Budde' dürfte sich vom Butzen ableiten, bekannt im Butzemann, dem Kinderschreck. Der Buddenturm war damals für Kinder gewiss geheimnisvoll und dürfte furchteinflößend gewesen sein, so dass es zu diesem Namen kam.

 

Die neugotische Zinnenkrone wurde im Zusammenhang mit dem Einbau eines Was­ser­re­ser­voirs aufgesetzt. Nach dem Krieg erhielt der Turm sein Kegeldach und seine ursprüngliche Höhe zurück.

Der Kleine Drubbel lag zwischen Katthagen und Kreuzstraße. Heute befindet sich an dieser Stelle der Rosenplatz.

Der heutige Rosenplatz


Heute...

Hollenbeckerstraße - Vom Krieg verschonte Häuser: Haus Nr. 25, links daneben Nr. 24 - 70er Jahre
Hollenbeckerstraße - Vom Krieg verschonte Häuser: Haus Nr. 25, links daneben Nr. 24 - 70er Jahre

Das alte Kuhviertel gibt es nicht mehr. Die Bombardierungen im 2. Weltkrieg haben aus dem Viertel eine einzige Trümmerstätte gemacht. Einige Gassen sind für immer verschwunden: Tasche, Lappen, Ribbergasse, Zwölfmännergasse und Brink. Beim Wiederaufbau konnte man der Not gehorchend nur eine einfache Bauweise realisieren. Dennoch kann auch heute noch der Charakter der vergangenen Zeit erahnt werden.

 

Schon früher gab es im Kuhviertel viele Kneipen und Restaurants. Das ist heute nicht viel anders.  Eine vielfältige Gastronomie zieht insbesondere die Studenten der nahegelegenen Universität und die vielen Besucher der Stadt an. Dass es hin und wieder zu Spannungen zwischen den Anwohnern und Gastronomen kommt, ist leider die Kehrseite der Medaille.

Pinkus Müller

Die bekannteste Gaststätte dürfte die Altbierbrauerei Pinkus Müller sein. Sie ist die letzte ihrer Art, in der das münstersche Altbier gebraut wird.

 

Der Urenkel des Firmengründers ist der allseits bekannte und beliebte Carl 'Pinkus' Müller. Eigentlich hatte er seinen Beruf verfehlt, denn er konnte singen wie kein anderer. Als singender Bierbrauer war Pinkus Müller in Konzertsälen und im Radio zu hören. Daneben hatte er eine besondere Leistung erbracht, die ihm den Namen 'Pinkus' einbrachte. Nach reichlichem Biergenuss schaffte er es in einem Wettbewerb als einziger, das Licht einer Gaslaterne auszupinkeln. Aus seinem Spitznamen 'Pinkulus' wurde das nunmehr bekannte 'Pinkus'.  Und mit dem Karneval hatte Pinkus Müller es auch, - mehrfach war er Karnevalsprinz in Münster.

Die kleinste Kneipe Münsters: Die Ziege mit Wirt Hati
Die kleinste Kneipe Münsters: Die Ziege mit Wirt Hati

... und sonst?

Die kleinste Kneipe Münsters ist die 'Ziege'. Der Gastraum ist höchstens 25 qm groß. Der Wirt - ein Original - umsorgt den Gast fürsorglich; man klönt und fühlt sich wohl.

 

Die älteste Studentenkneipe dürfte die 'Cavete' sein. Als 20jähriger war ich hier gern zu Gast. Auch heute noch ein absolutes Muss.

 

Nicht weit entfernt von der Überwasserkirche liegt das Antiquariat Solder, bundesweit bekannt unter dem Namen der Krimiserie 'Wilsberg' - ein beliebtes Fotomotiv für Touristen.

 

Und dann gibt es in diesem lebhaften Viertel die vielen anderen Kneipen, Gaststätten und Restaurants, wie auch kleine Läden und Handwerksbetriebe und natürlich die Universitäts- und Landesbibliothek am Rande des Kuhviertels.


Am besten, Sie machen sich selbst einmal auf eine Erkundungstour. Es gibt viel zu entdecken.

Eine kleine Welt für sich

Das alte Kuhviertel mit seinen mittelalterlichen Gassen und Häusern ist untergegangen. Die Struktur der Bewohner hat sich geändert, das Masematte wird nicht mehr gesprochen. Aber das heutige Kuhviertel hat immer noch seinen besonderen Charme, - und ...es ist immer noch eine kleine Welt für sich.


Quellen

Ludwig Humborg: Historischer Bummel durch Münsters Altstadt-Straßen

Münstersche Zeitung: Serie aus den 50 Jahren über Straßennamen

Maria Theresia Seidel: Text Erinnerungen, Bildmaterial Hollenbeckerstraße

Henning Stoffers: Text, Fotos, soweit nicht anders angegeben