mehr als 70 Jahre ist es her, dass der 2. Weltkrieg endete. Und dieses ist ein Grund, sich zu erinnern, wie es damals in Münster aussah.
Die meisten Fotos, die hier gezeigt werden, wurden im Sommer 1945 von dem Lehrer Ernst Wenzel gemacht. Einige Bilder sind von unbekannten Fotografen und dürften auch in jener Zeit aufgenommen worden sein. Ergänzt werden die Bilder durch die Tagebuchnotizen (leicht redigiert) des Journalisten Paulheinz Wantzen. Die äußerst schwierige Situation der Menschen im damaligen Münster spiegelt sich eindringlich wider.
Herzliche Grüße
Ihr Henning Stoffers
25. März 1945: Letzter großer Luftangriff auf Münster.
2. April 1945: Britische und amerikanische Einheiten rücken ein. Die Schuttberge behindern die Soldaten bei der Einnahme der Stadt.
Im April 1945 verzeichnete Münster nur 26.000 Einwohner, Ende des Jahres waren es bereits 79.000. Mehr als 80 % der Einwohner hatte die Stadt verloren.
Es gab 102 Luftangriffe, rund 700.000 Bomben wurden abgeworfen. Mehr als 1.600 Menschen starben. In dieser Zahl sind nicht die jüdischen Münsteraner enthalten, die in KZ verschleppt wurden und
dort umkamen. Ebenfalls nicht berücksichtigt sind die Männer, die als Soldaten getötet wurden.
Die relativ geringe Zahl von Todesopfern im Stadtgebiet erklärt sich dadurch, dass ein Großteil der Bewohner zunehmend zum Kriegsende aus der Stadt evakuiert worden war.
60 % aller Gebäude waren vernichtet, allein in der Altstadt 90 %. Die städtische Infrastruktur ist zerstört: Wasserleitungen, Gasleitungen und das Stromnetz. Es sind nur noch wenige
Krankenhausbetten vorhanden.
Es herrscht akute Wohnungsnot.
Der nationalsozialistische Oberbürgermeister Albert Hillebrand (1933-1945) wird abgesetzt. - Dr. Alfred Meyer, Gauleiter Westfalen-Nord, Oberpräsident und Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, begeht 1945 Suizid.
Die Straßen, die nach Nationalsozialisten benannt waren, erhalten neue oder ihre ursprünglichen Bezeichnungen zurück. Zum Beispiel wird aus der Adolf-Hitler-Straße wieder die Bahnhofstraße, aus der Hermann-Göring-Straße die Nordstraße oder aus der Horst-Wessel-Straße die Hafenstraße.
Paulheinz Wantzen (1901-1974) hat eine umfangreiche Dokumentation über Münster im 2. Weltkrieg hinterlassen. Wantzen war damals Lokalschriftleiter der Münsterschen Zeitung. Er lebte in den letzten Kriegsjahren evakuiert in Telgte.
Sein Tagebuch umfasst die Jahre 1939 bis 1946. Mit mehr als 6.200 Manuskriptseiten und tausenden Dokumenten (Zeitungsausschnitten, Fotografien, Flugblättern usw.) hat er das Geschehen und die Lebensumstände der Menschen nahezu lückenlos aus seiner Sicht dokumentiert. Er berichtet über Gerüchte, schreibt über die kleinen Dinge des täglichen Lebens und wertet das Verhalten von Behörden und anderen Institutionen. Wantzen war nicht Mitglied der NSDAP, aber er sympathisierte mit den Plänen und Zielen des Regimes. Dennoch ist eine kritische Distanz erkennbar, die sich in etlichen Anmerkungen zeigt. Dem Verlag 'Das Dokument' ist zu danken, dass er die Dokumentation als 1.664seitiges Buch herausgebracht hat.
Die hier wiedergegebenen Textpassagen müssen nicht besonders interpretiert werden. Die Stadt ist zerstört, die Menschen leiden und kämpfen um ihre Existenz. Gerüchte, seien sie noch so aberwitzig, machen die Runde und zeigen die zutiefste Verunsicherung der Bevölkerung.
Für den 1. Weltkrieg existiert ebenfalls eine Kriegschronik der Stadt Münster, die von dem Stadtarchivar Dr. Eduard Schulte verfasst wurde.
Nachtrag 17.4.2015
Prof. Dr. Markus Köster hat sich mit der Person Wantzen in einem Aufsatz auseinander gesetzt. Danach ergibt sich ein sehr viel kritischeres Bild mit einer deutlichen Nähe zu den Nationalsozialisten.
Wantzens Ausdrucksweise ist teilweise geprägt vom nationalsozialistischen, menschenverachtenden Vokabular. Er spricht zum Beispiel von 'ausländischen Elementen'. Gemeint sind Zwangsarbeiter aus Russland, Polen usw.
7.3.1945
Heute Nachmittag kam ich über den 'Anhalter' überraschend schnell nach Münster. Bei Kavermann sah ich noch links und rechts der Straße die großen Bombentrichter des letzten Angriffs. An der Kanalbrücke am Eingang von Münster waren Wiederherstellungsarbeiten links am Fahrdamm. Etwas weiter fand eine stramme Kontrolle durch die Wehrmacht statt. ...Auf der inneren Warendorfer Straße sah man noch einen Teil der schweren Verwüstungen durch den letzten Bombenangriff. Volltreffer auf Köchlings Restaurant 'Peter in der Fremde'. Dort hatten noch nach Vollalarm vier Personen Skat gespielt, bis sie der Wirt in den Keller trieb. Wenige Sekunden später der Volltreffer: Die Leute konnten aber aus dem Keller ausgebuddelt werden. ... Bekannte die im Lotharinger Bunker gesessen haben, berichteten, daß der schön gewackelt habe.
Weiter werden die Bombentreffer auf das Arbeitsamt, die Landesbank, die Erlöserkirche usw. aufgezählt.
10.3.1945
Münster hat am 9.3. morgens doch einen sehr schweren Angriff erlebt und wurde mit besonders schweren Schäden im OKW-Bericht genannt. Sauerstoffwerk, E-Werk, Güterbahnhof, Kiesekamp bis Bahnhof und dann der ganze Streifen über Schützenhof bis Geist und Mecklenbeck soll ein einziger Trümmerhaufen sein.
16.3.1945
Eben hörte ich, daß gestern abend in Münster die Jüdefelderstraße, Kuh- und Frauenstraße und die Gegend Bahnhof getroffen worden seien (die Bomben, vor allem Brandbomben, sollen schon bei Alarm gefallen sein, daher auch hier allerlei Verluste). ...Irgendwie habe ich das Gefühl, daß Münster in allernächster Zeit einen sehr schweren Angriff erleben wird und daß diese kleinen Angriffe nur Vorboten sind.
Seine Ahnung gab Paulheinz Wantzen recht. Der letzte und verheerendste Bombenangriff fand am 25.3. statt.
Am Tage nach dem letzten Luftangriff:
Heute morgen (26.3.) in aller Frühe war ich mit dem Rade in Münster. Es sieht dort schaurig aus, so daß man es gar nicht zu schildern vermag. Über der ganzen Stadt und in allen Straßen liegt eine dicke Nebelsuppe aus Brandrauch und Kalkstaub, daß nach wenigen Metern die Augen schmerzen und tränen. Auf der Warendorferstraße ist das Hotel Frönd ausgebrannt, weiter zur Stadt brannte es noch oder wieder an allen Ecken und Enden. Überall in der Innenstadt Brände, der Prinzipalmarkt sieht ganz schaurig aus, es steht dort buchstäblich vom Rathaus bis zur Lambertikirche auf beiden Seiten nichts mehr.
22.4.1945
Gestern nachmittag bin ich bei aufklarendem Wetter doch noch mit dem Fahrrad nach Münster gefahren und wurde auf beiden Wegen nicht im geringsten angehalten oder belästigt. In Münster hat sich nur wenig gegenüber meinem letzten Besuch verändert. Alles krankt noch immer an dem Dualismus Engländer-Amerikaner, die gegeneinander arbeiten und sich alle Befugnisse streitig machen. Die Verwaltung haben die Engländer (Chef ein sehr hoher phlegmatischer Oberst, dessen ständige Redensart bei allen Klagen ist: 'Dagegen müssen Sie sich bei Herrn Hitler beschweren!'), aber auch die Amerikaner haben ihre eigenen Dienststellen, die sich in alles einmischen und grundsätzlich anders entscheiden als die Engländer.
12. Mai 1945
Gestern nachmittag ... nach Münster gefahren, um gegen Alkohol etwas Rauchbares aufzutreiben. Die Hinfahrt verlief reibungslos (heute morgen auf der Rückfahrt bin ich schwer gestürzt), auf der Warendorferstraße stand nicht einmal mehr ein Posten. Ich wurde überhaupt nicht angehalten... Andauernd ziehen Leute zu und finden dann meist ihre Wohnung von anderen besetzt, die sich fast immer weigern auszuziehen. Überall herrschen deswegen Stunk und Krach und die arme Stadtverwaltung soll dann helfen und eingreifen. Es heißt, nun würden keine Genehmigungen zur weiteren Rückkehr mehr erteilt, da man nicht mehr als 30.000 Einwohner zulassen wolle. Wie früher die arische, so sucht man jetzt die jüdische Großmutter oder sonstige Beziehungen und Verbindungen zum Judentum.
17. Juni 1945
Seit dem 15.6. ist der frühere Oberbürgermeister Dr. Zuhorn kommissarisch wieder im Amt, vielleicht kommt nun etwas mehr Schwung in die Aufräumungs- und Aufbauarbeiten; es wäre wahrlich die allerhöchste Zeit. Es geht übrigens ein Gerücht, daß die führenden Männer und Amtspersonen der früheren Zeit schon zum Aufräumen und Fegen der Straßen herangezogen würden; so will jemand Albert Hillebrand (Münsters Oberbürgermeister 1933-1945) auf der Hammerstraße bei der Arbeit gesehen haben, demnach müßte er aus der Haft entlassen worden sein. - Als besonders bedrückend wird in Münster noch immer in den meisten Vierteln der Wassermangel empfunden, während man sich mit dem fehlenden Licht jetzt in der Sommerzeit erheblich besser abfindet. Gas gibt es natürlich auch noch nirgends wieder, so daß Kochen ein schwieriges Problem für die Hausfrauen bedeutet. Kohlen werden sehr knapp sein, angeblich soll es je Kopf und Woche 20 Pfund geben, und alles ist bemüht, Holz aufzutreiben. Schwer sind die Hausfrauen mit dem Einkochen beschäftigt...
3. August 1945
Dieser Sommer ist alles andere als schön, saukalt und ungemütlich, alles läuft in Woll- und Wintersachen herum, friert und macht sich Sorgen um einen frühen und harten Winter. - In Münster ist die Räumungsaktion in den Straßen nun einigermaßen angelaufen. Man sieht Männlein und Weiblein jeden Abend zwei Stunden schippen, schaufeln und Steine sortieren. ...Die Leute erzählen sich nun, die Hammerstraße würde zuerst wieder aufgebaut, da sie breit und modern genug sei. Die Warendorferstraße solle um 20 Meter verbreitert werden und Hammer- wie Warendorferstraße eine gleich breite Fortsetzung quer durch die Stadt finden, so daß Münster durch ein breites Straßenkreuz in vier Viertel zerlegt würde. Auch alle anderen Straßen sollen sehr breit und gerade gebaut werden. Münster würde in Zukunft eine sehr moderne Stadt sein, da man nicht beabsichtigt, die Prinzipalmarkt und die alten winkligen Straßen wieder aufzubauen.
6. August 1945
In Münster gehen die Aufräumungsarbeiten weiter, aber gegen die Schuttmassen ist kaum anzukommen. Alles, was Beine und keine dringend notwendige Beschäftigung hat, wird ringsum zu ganztägiger Schipparbeit herangezogen. Das Arbeitsamt kontrolliert alle... - Gerüchte wollen wissen, daß Oberbürgermeister Hillebrand im Lager Recklinghausen an Entkräftung gestorben sei. Andere, angeblich authentische und Augenzeugen wollen wissen, daß Gauleiter Dr. Meyer unweit Detmold im Walde gefunden worden sei, seine Leiche wäre schon stark in Verwesung übergegangen...
Tatsächlich starb Albert Hillebrand 1961 in Münster. Gauleiter Meyer beging bereits am 11.4.1945 in Hessisch Oldendorf Suizid.
16.12.1945
Englischer Straßenraub wird immer wieder von allen Seiten gemeldet: gestern nahmen uniformierte Engländer in der münsterschen Promenade den Damen die Pelzmäntel ab, sie mußten trotz aller Proteste im Kleid weitergehen. Das ist nichts anderes als gemeiner und niederträchtiger Straßenraub, für den deutsche Soldaten vor ein Kriegsgericht gestellt und erschossen worden wären...
Hier und auch an anderen Stellen wird erkennbar, dass Wantzen offensichtlich nicht über das Ausmaß der Gräueltaten des verbrecherischen Regimes und Krieges informiert war.
Neujahr 1946
Sehr viel mehr Leute, als man es hätte annehmen sollen, sind mit mehr oder weniger Alkohol ins neue Jahr gegangen, viele sogar mit viel Radau und Stimmung, andere, zu denen wir gehörten, nachdenklich und geruhsam für uns. So wurde es ein schöner und recht besinnlicher Abend. ...Es mehren sich auch jene, die davon flüstern, in der Nacht zwischen 1 und 2 Uhr könne man über Geheimsender den Führer und Bormann hören. Nichts ist so dumm und blöde, daß es nicht immer wieder geglaubt würde und jede Latrinenparole findet von Woche zu Woche mehr Anhänger und breitere Resonanz....
Am 14.1.2015 erreichte mich folgende Zuschrift:
... Im Text wurde u.a. die Zerstörung des Kuhviertels genannt, die Straßen Jüdefelder-, Kuh- und Frauenstraße. Auch die Hollenbeckerstraße, von der die Kuhstraße abgeht, wurde sehr
zerstört. Lediglich mein Elternhaus, das bereits erwähnte alte Schlaun´sche Eichenfachwerkhaus Nr. 24, daneben das ebenfalls von Schlaun gebaute Haus Nr. 25 und das Haus von Müller, in dem sich
der Kindergarten und danach eine Kneipe (bis heute) befand, blieben nach dem Bombenhagel stehen. Auch der
Schlaun´sche Hof, gegenüber meines Vaters Haus wurde damals zerstört. Ein Gemälde vom Schlaun´schen Hof (Ich glaube vom Glasmaler Schlüter) wurde in der Ecke vor dem Nachriegs-"Bahn"bau zur
Erinnerung aufgemalt.
Meine Mutter erzählte mir, dass die Hollenbeckerstraße nach dem Krieg zunächst nur ein kleiner Pfad
zwischen den Trümmern war. Soweit ich mich zurück erinnern kann, war inzwischen schon viel wieder aufgebaut.
Aber ich habe noch gute Erinnerungen an das Spielen mit den Nachbarkindern in und auf den Trümmerbergen; das war eigentlich streng verboten, da meine Mutter immer Angst hatte,
dass ich irgendwo einstürze.
Viel später wurde dann ja auch bei Bauarbeiten des neuen Hauses an der Ecke Hollenbecker-, Münzstraße ein alter Eiskeller entdeckt. ...