wer kennt sie nicht, die knusprigen Hähnchen aus dem Nordstern! Bis spät in den Abend hinein können halbe Gockel im Schatten der Kreuzkirche genossen werden - oder gleich nebenan eine leckere Pizza oder vielleicht ein original italienisches Eis?
Über das Haus in der Hoyastraße hat Gian-Luca Campisi vieles erzählt, und so ist dieser Beitrag über ein Stück Kreuzviertelgeschichte zustande gekommen.
Ihr Henning Stoffers
Eigentlich macht man sich keine Gedanken darüber, warum und wieso sich in der Hoyastraße der Nordstern, ein Eiscafé und eine Pizzeria angesiedelt haben. Seit wann sind die leckeren Brathähnchen in ganz Münster schon über Generationen beliebte Tradition? Und dann gab es einen berühmten Stammgast im Nordstern: Professor Max Geisberg, der Münster ,inventarisierte' und bekannter Kunsthistoriker war.
Linkes Foto: Enzo, Gian-Luca und
Martina Campisi
Aber der Reihe nach...
Die Dynamik des Wachstums im Norden der Stadt machen diese beiden Stadtpläne deutlich. Um 1840 besteht der Bereich außerhalb der Promenade ausschließlich aus Wiesen und Feldern. Hier haben die Bürger ihre Gärten mit kleinen Gartenlauben. Kühe, Ziegen und Schafe weiden auf den Wiesen.
Die Stadt Münster wächst rasant. Im Norden entsteht im ausgehenden 19. Jahrhundert ein neuer Stadtteil: das Kreuzviertel.
Namensgeber ist das alte Kreuztor. Seit etwa 1150 trug die Metzgerzunft ein großes Kreuz, das sich im Dom befand, feierlich zum Nord-/Kreuztor und von dort weiter in Richtung Kinderhaus. Die Prozession gibt es lange nicht mehr, aber der Name ist geblieben. 1899 wird mit dem Bau der Kreuzkirche - der Mittelpunkt des Stadtteils - begonnen, der 1908 mit dem Turmbau abgeschlossen werden kann.
Das Kreuzviertel wird bevorzugte Wohngegend für preußische Beamte, Offiziere und Professoren. Nicht umsonst wird die Gertrudenstraße im Volksmund ,Professorenstraße' genannt. Viele Gebäude entstehen im verschwenderischen Stil dieser Zeit, oft mit Türmchen, Erkern und den floralen Verzierungen des Jugendstils.
In diesen Jahren des Baubooms errichtet der Bauunternehmer, Zimmermeister und Gerichtstaxator Heinrich-Theodor Lodde vom Coerdeplatz 4 zwei Mehrfamilienhäuser in der Hoyastraße 3-5, die er ab 1903 vermietet.
Mit seinem unternehmerischen Wagemut zeigt Heinrich Theodor Lodde große Weitsicht, die in späteren Jahrzehnten ebenfalls von den Familien Pasquariello und Campisi fortgesetzt wird.
Auch die bestehenden verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen den Familien dürfen an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Sie ziehen sich im Wandel der Zeit wie ein roter Faden durch die Besitzverhältnisse beider Häuser.
Das Haus Nr. 5 geht später für einige Jahrzehnte in das Eigentum des Regierungsrates Arnold Schlömer über.
Im alten Kreuzviertel ist das Halten von Kleinvieh - zum Beispiel Hühner, Kaninchen, Schafe und Ziegen - nichts Außergewöhnliches. So hat das damalige Stadtviertel einen ländlich dörflichen Charakter, der aber immer mehr dem städtischen Flair weicht. In dieser kleinen, überschaubaren Welt kennen sich die Menschen.
Gian-Luca erzählt, dass Clairchen Lodde (eine Tante der Familie) um 1910 noch an den Tümpeln spielte, die vom Max-Klemens-Kanal übrig geblieben waren.
Das Haus Nr. 3 (Nordstern) hat sogar heute noch ein Wegerecht bis zur Raesfeldstraße, da sich das Grundstück samt Kegelbahn bis dorthin zieht. Auch befand sich dort ein Stall für die Pferde der Germania-Brauerei (heute Wohnhaus), ein Schlachthof für Hühner und außerdem die Wurstküche der Metzgerei von der Hoyastraße 1. Diese Metzgerei verkaufte freitags kein Fleisch, so wird berichtet.
Durch die besonderen Zuschnitte der Grundstücke sind die Gebäude - insbesondere deren rückwertigen Teile - seit jeher miteinander verbunden. Die Hoyastr. 5 hat zudem einen ,Flaschenhalsgarten'. Durch den nur ein Meter breiten Gang wird der Garten zugänglich. Dieser Weg diente ursprünglich dem An- und Abtransport von Dünger und Abfällen aus dem innersten des Flurstückes. Die alte Bezeichnung ,Alte Dungstiege' weist darauf hin.
Dieser schmale Weg führt heute noch in den Garten. Drei alte Obstbäume stehen hier. Von den Kirschen, Walnüssen und Äpfeln haben bereits Gian-Lucas Großmutter und die Nachbarn viele Kuchen gebacken. Und auch heute noch backt seine Mutter die Kuchen von den Früchten dieser Bäume, und zwar nach alten Rezepten.
Im Krieg wird der hintere Flügel der Hoyastraße 5 getroffen. Auch die Kegelbahn wird zerstört. Wie sehr die Familie daran hängt, wird an dem Spruch einer Tante deutlich: ,Sie würde ihren Ehering für den Wiederaufbau der Kegelbahn geben.' - Die Kegelbahn wird wieder aufgebaut und ist heute noch in Betrieb.
1946 will der Regierungsrat Arnold Schlömer, zeitweiliger Eigentümer, den hinteren Flügel der Hoyastraße 5 wieder aufbauen. Wegen Geldmangel gelingt dies zunächst nur eingeschossig, was in diesen Jahren beim Wiederaufbau von Gebäuden vielerorts zu beobachten ist.
Die Gaststätte Nordstern feiert 2025 ihr 120jähriges Jubiläum, denn bereits im Jahre 1905 wurde die Gaststättenkonzession erteilt.
Ende der 1920er Jahre übernimmt Heinrich Lodde den Nordstern, der zuvor von Pächtern geführt worden war. Das bürgerliche Speiserestaurant hat einen Saalbau für Schützenfeste, Hochzeiten, Beerdigungen und andere Veranstaltungen. Ganz prominent tagt hier die ,Abendgesellschaft des Zoologischen Gartens'. Nicht unweit vom Nordstern wohnt ein besonderer Stammgast: Professor Max Geisberg. Er ist bekannter Kunsthistoriker, Direktor des Landesmuseums und Buchautor (z.B. sein sechsbändiges Werk über die Bau- und Kunstdenkmäler Münsters)
Während des Krieges wird das Bier knapp. Es gibt nur noch das schnell verderbliche Leichtbier, und nach dem Krieg kommt Molkebier zum Ausschank, das nach den Weltkriegen mangels Malz zeitweise Konjunktur hat. Der durch Bomben zerstörte Saal wird nicht wieder aufgebaut.
Nach dem Krieg wird das Restaurant wieder geöffnet. Das Speiseangebot ist mangels Lebensmittel sehr eingeschränkt. Es muss ,gehamstert' werden, oder man versucht sein Glück auf dem Schwarzmarkt. Für jede Speise sind vom Gast entsprechende Lebensmittelmarken abzugeben.
Nach der Währungsreform - 1948 wird die DM eingeführt - blüht der Restaurantbetrieb wieder auf. Der Tresenbetrieb, Mittags- und Abendtisch werden wieder Normalität.
Es sind die Jahre wiedererwachter, fröhlicher Lebenslust. Der Nordstern ist Mittelpunkt für Familienfeiern und des Karnevals im Kreuzviertel. Kostümwettbewerbe finden statt, und die Gewinner haben freies Essen und Trinken. Als dann 1954 die Fußballweltmeisterschaft im Fernsehen übertragen wird, stellt Karl Hoffmann - Besitzer des Elektroladens Hoyastraße 4 - einen Fernseher ins Schaufenster. Dicht gedrängt stehen die Kreuzviertler vor dem Laden und verfolgen die Fußballspiele.
Und auch dies ist in dieser Zeit nichts Ungewöhnliches: In der Drogerie von Adolf Schmalhorst in der Hoyastraße 5 steht das einzige Telefon, das von allen Hausbewohnern mitbenutzt wird. Kommt ein Anruf für einen Mitbewohner, muss dieser aus seiner Wohnung in die Drogerie geholt werden. Jeder wird sich bemüht haben, dass dies nicht allzu oft geschieht...
1967 übernimmt Heinrichs Sohn Klaus Lodde den Nordstern. Mit einer Geschäftsidee wird sein Lokal über Münsters Grenzen bekannt: Er führt die Hähnchenbraterei ein. Sie schmecken so lecker, dass sogar nachts Gäste nach seinen Brathähnchen verlangen. Klaus Lodde verkauft 2009 das Haus Hoyastraße 3, der Nordstern wird von neuen Wirtsleuten weitergeführt.
1974 erwirbt Giuseppe Pasquariello das Haus Hoyastr. 5 und eröffnet zunächst die Pizzeria ,Italia' in der Gertrudenstraße/Studtstraße. Einige Monate folgt später die Pizzeria ,La Taverna' in der Hoyastraße 5.
Der 16-jährige Sizilianer Franco Ravida kommt 1966 aus Sizilien nach Deutschland und arbeitet in einer Grevener Textilfabrik.
1978 holt er seinen Cousin Vincenzo - genannt Enzo - Campisi nach, der auch in der Grevener Textilfabrik arbeiten soll. In seiner geliebten Heimat ist keine Anstellung zu finden.
Der ausgehandelte Gastarbeitervertrag ist aber inzwischen nichtig, und für Enzo gibt es in Greven keine Beschäftigung. Zurück nach Italien möchte er nicht, und so ist der Anfang in Deutschland alles andere als einfach.
Enzo Campisi fängt in Giuseppe Pasquariellos Pizzeria ,La Taverna' als Kellner an, die damals auf zwei Etagen untergebracht ist. Der erste Arbeitstag beginnt unglücklich: Mit vier Pizzen auf dem Arm stolpert Enzo auf der vorletzten Stufe der Treppe und fällt der Länge nach hin. - Zu seinen damaligen missligen Lebensumständen gehört auch, sich mit sechs Kollegen ein Zimmer teilen zu müssen.
Der Zufall, das Schicksal oder besser das Glück führt zwei Menschen zusammen:
Martina Beyer, gerade einmal 19 Jahre alt, besucht oft die Pizzeria. Der Nordstern ist ihr zu altbacken, sie geht lieber in die Taverna; hier spielt die Musik. Enzo bedient sie, sie unterhalten sich, wechselseitige Sympathien entstehen, sie verlieben sich und heiraten 1982. Martina und Enzo bekommen drei Kinder, von denen Gian-Luca das jüngste ist.
Und noch jemand ist sehr glücklich: Martinas Mutter Margarethe Beyer freut sich über das Glück ihrer Tochter.
Dass Martina im Kreuzviertel bleibt, ist nicht selbstverständlich. Denn sie hat sich oft über den mangelnden Komfort der alten, unsanierten Häuser beklagt. Nicht selten sind die Toiletten außerhalb der Wohnungen zu finden.
Noch vor der Hochzeit eröffnen Enzo und Martina 1980 auf der gegenüberliegenden Straßenseite in der Hoyastraße 2 eine Eisdiele und mieten später das gesamte Haus.
Als erster Gastronom des Viertels beantragt Enzo, Gäste vor der Tür bewirten zu dürfen - ,Warum nicht wie in Italien', sagt er. Nun kommen 1983 erstmals Tische und Stühle nach draußen. Auch der Nordstern und La Taverna ziehen nach. - Die Hoyastraße ,mausert' sich, mediterranes Ambiente hält Einzug.
Cousin Franco Ravida bleibt nicht untätig und eröffnet 1983 in Gievenbeck ebenfalls sein Eiscafé.
Enzo Campisi und Giuseppe Pasquariello stecken voller Ideen. Sie lassen Mitte der 1980er Jahre eine italienische Band vor der Kreuzkirche spielen. Die Musiker werden für die Nacht im Nordstern untergebracht.
Der Grundstein fürs Kreuzviertelfest ist gelegt.
1985 wird das Gebäude Hoyastr. 5 aufwendig saniert. Die Fläche des ehemaligen kleinen Tabak- und Schreibwarenladens wird der Pizzeria zugeschlagen, die nunnmehr das gesamte Erdgeschoss nutzen kann. Auch wird die Außenterrasse höher gelegt, und alte Kriegsschäden am Dach werden repariert.
Eine sizilianische Familie ist in Münster angekommen; sie hat Wurzeln geschlagen. Enzo spricht inzwischen auch etwas Platt.
Als Gastarbeiter kommt Enzo Campisi - arm wie eine Kirchenmaus - mit viel italienischer Lebensfreude nach Münster, wohnt mit sechs anderen Menschen in einem Zimmer, arbeitet fleißig und erfolgreich und kann nun mit seiner Familie voller Genugtuung auf sein Lebenswerk blicken.
Vielleicht passt das italiensche Sprichwort dazu: ,La rivincita sulla vita.' In freier Übersetzung: Trotz Widrigkeiten mit persönlicher Bindung zum Erfolg kommen.
Die Familien Lodde, Campisi und Pasquariello haben im Kreuzviertel zu mehr Lebensqualität, Farbigkeit und Vielfalt beigetragen. Zudem hat die Hoyastraße mit einem Mix aus italienischer und münsterländischer Lebensart an Attraktivität gewonnen. Nicht zu vergessen ist Christoph Jauch, der in nächster Nachbarschaft eines der inzwischen selten gewordenen Feinkostgeschäfte betreibt.
Ich danke Gian-Luca Campisi und seiner Familie sehr herzlich für die vielen Informationen und Abbildungen.
Quellen
Text und Idee: Henning Stoffers
Abbildungen, sofern nicht anders angegeben: Gian-Luca Campisi