im Mai 2019

Liebe Leserin, lieber Leser,

bei meinen Recherchen über einen Luftschutzkeller im Kreuzviertel lernte ich Gabrielle Gräfin von Merveldt kennen. Ihre Mutter war der Luftschutzwart in der Heerdestraße.

 

Die Erinnerungen der Gräfin Gabrielle an die Kriegs- und Nachkriegsjahre sind kleine, anrührende Geschichten aus schwerer Zeit. Was sie erzählte, ist bemerkenswert, so dass ich gern diesen Beitrag veröffentliche.

 

Ihr Henning Stoffers


Ein bewegtes Leben

Ohm Clemens August, die Wackelnase und ein Neuanfang

Im Gespräch
Im Gespräch

Eigentlich suchte ich für meinen Beitrag über den Luftschutzkeller in der Heerdestraße lediglich ein Foto von Frieda Gräfin von Merveldt. Ich erfuhr, dass ihre Tochter Gabrielle anzusprechen sei, die zeitweise zu Besuch in Drensteinfurt lebt. Wir telefonierten und trafen uns zum Gespräch. Gräfin Gabrielle, inzwischen über 90 Jahre alt, erzählte mir über ihr Leben, das sie diesseits und jenseits des Atlantiks führt.

Die Familie

Gräfin Frieda - Foto Merveldt
Gräfin Frieda - Foto Merveldt

Als Gräfin Gabrielle 1928 geboren wurde, wohnten die von Merveldts nach mehren Wohnstationen in der Heerdestraße 11. Sie hatte einen jüngeren Bruder namens Wilderich sowie Hubertus und Juliane als ältere Geschwister. Der Vater Hubertus - Offizier bei der Reichswehr - starb 1931, 6 Monate nach der Geburt von Wilderich. Nun musste ihre Mutter Frieda allein für die Kinder und den Lebensunterhalt sorgen.

 

Frieda Gräfin Merveldt war nicht bei bester Gesundheit. Sie litt oft unter Thrombosen, Stimmproblemen und Atembeschwerden, und so wurden zur Genesung Aufenthalte im Schwarzwald und in Italien erforderlich. Im Klavierspielen und im Gesang war sie bestens ausgebildet, während ihr das Praktische gar nicht lag.

 

Wilderich starb 1941 auf tragische Weise. Bei einer BDM-Schießübung erlag der der Junge einem Kopfschuss. Es war ein Unglücksfall.

Kriegsbeginn 1939

Ein der Ubena ähnliches Schiff - Sammlung Henning Stoffers
Ein der Ubena ähnliches Schiff - Sammlung Henning Stoffers
Einschiffung der Passagiere - Sammlung Henning Stoffers
Einschiffung der Passagiere - Sammlung Henning Stoffers

Die Mutter plante Mitte 1939 eine Schiffreise auf der Ubena mit den beiden älteren Kindern von Hamburg aus durchs Mittelmeer. Oft wurde die Reise verschoben, weil die Zeiten unsicher waren und Krieg drohte. Nach langem Zögern trat sie die Reise mit der Ubena an. Während der Rückreise änderte sich die politische Lage dramatisch, der Ausbruch des Krieges stand kurz bevor. Das Schiff war zu diesem Zeitpunkt auf hoher See, und niemand wusste, wo genau es war. Auch die Reederei und das Innenministerium konnten keine Auskunft geben. Später erfuhr Gräfin Gabrielle, dass die Passage durch den Ärmelkanal aus Gründen der Sicherheit nicht genutzt werden konnte. Die Ubena machte einen großen Umweg um Großbritannien herum.

Sammlung Henning Stoffers
Sammlung Henning Stoffers

Am 30. August, ein Tag vor Kriegsbeginn, legte das Schiff im Hamburger Hafen an. Gräfin Gabrielle erzählte von dem bangen Warten. Und als die Familie dann glücklich wieder vereint war, erlebte sie am 4. September Münsters ersten Luftalarm. Die Familie verbrachte einige Stunden im Luftschutzkeller ihres Hauses.

 

Diesmal blieb der Luftangriff aus, aber in den nächsten Jahren sollten die Alarmsirenen noch oft ertönen, und die Flugzeuge ihre unheilvolle Fracht über Münster abladen.

Dita, die treue Seele mit der Wackelnase

Zur Familie gehörte seit Jahren auch ein Kindermädchen: Edith Goebell. Edith wurde von der Mutter und den Kindern Dita genannt. Eine Begründung, warum und wieso dieser Name vergeben worden war, gab es nicht.

 

Ditas Wackelnase war eine fehlkonstruierte Gasmaske. Beim Ein- und Ausatmen gab es seltsame Geräusche, und die Kinder mussten beim gemeinsamen Rosenkranzgebet - zum Ärgernis der Mutter - herzlich lachen. Dita war in den Kriegsjahren ebenfalls mit Luftschutzaufgaben betraut worden.

 

Dita hat die Familie viele Jahre belgeitet und war deren Teil. 1941 musste sie die Familie verlassen, um in einer kriegswichtigen Fabrik zu arbeiten.

Hubertus - Der Gasmaskenersatz und des Bischofs Schuhe

Bruder Hubertus - Foto Merveldt
Bruder Hubertus - Foto Merveldt

Gräfin Gabrielles älterer Bruder Hubertus hat als 16-Jähriger bereits eine stattliche Größe von 2 Metern erreicht.

 

Dies führte dazu, dass ihm keine Gasmaske passte. Er wurde angehalten, sich im Falle des Falles statt der Gasmaske ein Gerstenkornhandtuch, getränkt mit Essigwasser, vor den Mund zu halten. Ob dies wirklich geholfen hätte?

 

Nach dem Abitur meldete sich Hubertus zur Wehrmacht und kehrt erst 1949 als Spätheimkehrer aus Serbien zurück. Als der dann Schuhe der Größe 50 brauchte, konnte auf die Hinterlassenschaft von Bischof Clemens August zurückgegriffen werden, denn beide waren etwa gleich groß und hatten die gleiche Schuhgröße.

Ohm Clemens August

Seite der Original-Predigtabschrift 1941 - Sammlung Henning Stoffers
Seite der Original-Predigtabschrift 1941 - Sammlung Henning Stoffers

Mit Münsters Bischof Clemens August Graf von Galen waren die  Merveldts verwandtschaftlich verbunden. Eine Großmutter von ihm war eine Merveldt. Clemens August war hin und wieder zum Essen oder zum Tee im Hause Heerdestraße 11, oder die Familie Merveldt war zu ihm ins Palais eingeladen. Gräfin Gabrielle redete ihn mit ,Onkel Clemens August' an.

 

Als in Münster die Luftangriffe heftiger wurden, kam Gräfin Gabrielle nach Berchtesgaden, wo sie zur Schule ging. Von ihrer Mutter erhielt sie 1941 Abschriften der berühmten Predigten, die Clemens August gehalten hatte. Gräfin Gabrielle schrieb ihm, wie stolz sie auf ihn sei. Er bedankte sich mit einem Foto und einem Brief, der wie folgt endete: ,...und bete für mich. Dein Ohm Clemens August'. Den Brief und das beigefügte Foto von ihm hat Gräfin Gabrielle in einer Kiste auf dem Dachboden aufbewahrt.

Nach dem Krieg

Gräfin Frieda - Foto Merveldt
Gräfin Frieda - Foto Merveldt

Die Merveldts überlebten den Krieg außerhalb von Münster unversehrt. Als die Mutter mit ihren Töchtern 1945 zurückkehrte, war ihr zur Zeit unbewohntes Haus von der Stadt Münster beschlagnahmt. Ihnen wurde lediglich ein Zimmer zum Wohnen zugewiesen. Erst 1948 erhielten sie ihr Eigentum zurück. Mit der Vermietung von Zimmern an Studenten und anderen Personen sowie deren Beköstigung - für Letzteres sorgte Gräfin Gabrielle -  konnte sich die Familie notdürftig über Wasser halten. Auch der Schauspieler Gert Fröbe logierte damals bei den Merveldts.

 

Gräfin Gabrielle besuchte zwei Jahre die wiedereröffnete Höhere Handelsschule in Münster. Vorher lernte sie bei Nonnen das Nähen. Diese Fertigkeit kam ihr in ihrem späteren Leben sehr zugute. Gräfin Gabrielle  war in dieser Zeit für das Praktische zuständig. Die Mutter konnte zwar virtuos Klavierspielen und wunderbar Singen, aber in Sachen Kochkunst und Haushaltsführung konnte sie keinen Beitrag leisten.

 

Es waren erbärmliche Zeiten.

Auf zu neuen Ufern

Gräfin Gabrielle im Designerkleid - Foto Merveldt
Gräfin Gabrielle im Designerkleid - Foto Merveldt

In Deutschland sah Gräfin Gabrielle keine Perspektiven für ihr künftiges Leben, und so wanderte 1956 nach Kalifornien aus. Sie war auf sich allein gestellt, das neue Leben war ihr fremd. Es begann ein Lernprozess, aber neue Chancen taten sich auf.

 

Zunächst arbeitete für 3 Jahre sie in der Nähe von San Diego in La Jolla bei einem Meeresbiologen und seiner Familie als ,europäische Köchin'.

 

Bei einer Modedesignerin in Palm Springs fand Gräfin Gabrielle dann als Näherin Arbeit, wurde deren Privatsekretärin und reiste mit ihr zu Modenschauen in Paris, Mailand und Rom. Sie lernte berühmte Filmstars kennen und bewegte sich in der High Society.

1969 konnte sie in Palm Springs ihre eigene Boutique eröffnen und ein Haus erwerben.

 

Gräfin Gabrielle erlitt 2008 einen schweren Schlaganfall mit halbseitiger Lähmung und Sprachverlust. Mit viel Energie lernte sie wieder das Sprechen und ihren Körper zu bewegen.

 

Jetzt lebt sie in Palm Springs (Californien - USA) und besucht ab und zu Drensteinfurt.

Nachträglich zum 90. Geburtstag - Stadtanzeiger Ahlen - 26.8.2018
Nachträglich zum 90. Geburtstag - Stadtanzeiger Ahlen - 26.8.2018

Ein Nachwort

Einige Tage vor ihrer Abreise nach Palm Springs besuchen meine Frau, unser Hund Luna und ich Gräfin Gabrielle in der alten Wassermühle, die zum Drensteinfurter Schloss gehört. Es ist die Wohnung von Gela-Maja Gräfin Merveldt, der Witwe ihres Bruders Hubertus.

 

Eine kleine, zierliche Dame mit wachen Augen und zugewandter Haltung sitzt uns gegenüber.

 

Sie spricht über ihre Freunde und ihre Erlebnisse. Ein pralles, aktives Leben hat sie geführt. Langeweile kannte sie nicht, der Arbeitstag hatte für sie 16-18 Stunden.

Gräfin Gabrielle erinnert sich an die vielen kleinen Begebenheiten aus ihrer Jugendzeit im Kreuzviertel, an die Klassenkameradinnen und an Menschen, die lange nicht mehr sind.

 

Über die Strapazen der anstehenden Reise verliert Gräfin Gabrielle kein Wort. Ganz selbstverständlich ist es für sie, von Palm Springs 3.200 Kilometer per Auto mit nach Seattle zu reisen, um dort liebe Freunde zu besuchen.

 

Wenn sie wieder daheim ist, freut sich Gräfin Gabrielle, diesen Beitrag lesen zu können.

Gräfin Gabrielle - Foto Mervelt
Gräfin Gabrielle - Foto Mervelt

Quellen

Fotos, soweit nicht anders angegeben: Henning Stoffers

Text und Idee: Henning Stoffers