Liebe Leserin, lieber Leser,

Carl  Eduard Niemer 1944 - Foto Familie Niemer
Carl Eduard Niemer 1944 - Foto Familie Niemer

für Dr. Sybille Demmer und Dr. Stefan Schaub war es nicht einfach, die nur schwer lesbaren handschriftlichen Aufzeichnungen ihres Großonkels Carl Eduard Niemer - ab 1907 Seniorchef des Weinhauses Carl Niemer - zu transkribieren. Herausgekommen ist ein einzigartiges Zeitdokument. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Stadt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der zweite Teil schildert das traumatische Erleben des verheerenden Bombenangriffs vom 28.10.1944.

 

Ihr Henning Stoffers


Dr. Sybille Demmer und Dr. Stefan Schaub über Carl Niemer

Carl (Eduard) Niemer, der Verfasser der handschriftlichen Aufzeichnungen, die hier wiedergegeben werden, wurde am 22.5.1876 geboren und starb am 7.3.1945. Er hat fast sein ganzes Leben im Haus Salzstraße 57 gewohnt (d.h. erst im Vorgängerbau, welchen sein Vater Bernhard Anton Carl Josef Niemer 1874 erworben hatte, dann im Neubau von 1907, später in der Zeppelinstraße), also sehr nah zum Prinzipalmarkt. - Die Aufzeichnungen stammen aus dem Jahre 1944.


Carl Eduard Niemer - Erinnerungen

Blick auf den Prinzipalmarkt - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Blick auf den Prinzipalmarkt - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)

Teil I

Der Prinzipalmarkt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts

Blick auf die Lambertikirche 1870 mit dem 1881 abgebrochenen Turm - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Blick auf die Lambertikirche 1870 mit dem 1881 abgebrochenen Turm - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)

Der herrliche rechteckige von den stolzen Giebeln und dem beiderseitigen Kranze der Arkaden umgebene Freilichtsaal der Stadt mit seinem stolzen Rathaus und reizvollen Stadtweinhause, der reichen Stadtkirche Lamberti mit ihrem früher so traulich und behäbig wirkenden alten und dann stolzen neuen Pyramidenturm, dieser zu den schönsten deutschen Marktplätzen Deutschlands zählende Platz war damals noch nicht von starkem Großstadtverkehr, noch nicht von elektrischen Straßenbahnen und Autos jeglicher Art belebt, er war geruhsamer, so dass sonntags nicht nur unter den Bögen, sondern mitten auf dem Markt der Sonntagskorso nach der 11 Uhr-Messe einsetzte.

Der Prinzipalmarkt um 1885 - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Der Prinzipalmarkt um 1885 - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)

Es war ein buntes freundlich festliches Bild. Die vielfarbigen Mützen der studentischen Korporationen, die Uniformen der Regimenter, die weißen Mützen der Kürassieroffiziere und die der anderen Regimenter und die vielfarbige Sommertoilette der promenierenden Frauenwelt Münsters boten ein an schönen sonnigen Mittagsstunden reizvolles farbenreiches Bild.

Pferdeomnibus um 1900 - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Pferdeomnibus um 1900 - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)

Man wandelte auf und ab, begrüßte sich, in schwerer Moiréseide rauschten mit wallenden Schleppen die münsterischen Mütter mit ihren Töchtern auf und ab, letztere eine Augenweide für das Militär, die Studenten und die münstersche Jeunesse!

 

Vorm Stadtweinhaus löste sich die Hauptwache des Infanterie-Regiments 13 ab, die gelben Postwagen fuhren ab und zu durch die Menge und Hagenschneiders kleine Omnibusse. Man brauchte noch nicht vor schnellen Autos zu flüchten und zu weichen.

Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)

Man kannte fast jede Familie, die nach dem Gottesdienst promenierend sich sehen ließ.

 

Beliebt waren dann die Sonntagsfrühschoppen im kleinen Café Steiner, intimer wie sein Nachfolger Kaffee Schucan, aber schon mit herrlichen Torten Engadiner Tradition. Oder man trank ein Münchner in der Alten Börse.

Rechts Gaststätte ,Zur alten Börse' - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Rechts Gaststätte ,Zur alten Börse' - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)

Die Nordseite des Marktes war im Schatten des Lambertiturms vom alten Drübbelken begrenzt, einer Anzahl von etwa [keine Angabe des Autors- redaktionelle Ergänzung: 10] kleinen Häuschen, die in ihrer Gesamtmitte einen kleinen Hof umgaben mit so gemütlichen Kleinstadtlädchen, die herrliche Motive für die Kunst eines Peter Philippi gebildet hätten.

Der Drubbel beherbergte folgende Lädchen und Geschäfte:

Der Drubbel etwa 1903 ' - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Der Drubbel etwa 1903 ' - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)

An der Marktseite das Kurzwarengeschäft von Schmitz im Drübbelken, ein niedriges Lokälchen, in dem es immer nach frischen Webwarenstücken duftete, das alte Frisörgeschäft Demtröder, die Annoncenannahme der Frau Rolef, das Barbier- und Friseurgeschäftchen Micke, ein Seilerwarenlädchen, das Geschäftchen Dupré, der für die Prozessionen künstliche Papierblumen und die sogenannten Tonten lieferte, das sind an leichten 2 Meter langen Stäben oben befestigte Bälle in Größe fast eines Kürbis aus künstlichen Blumen mit kleineren Spiegel-Stücken verziert und mit Goldblättern, dann das Kaffee- und Coloniallädchen von Esch, der Messerschmied Uhle, die Witwe Schmechtelkamp mit ihrem netten Papier- und Bildchenladen.


Teil II

Samstag, 28.10.1944 - Der Bombenangriff

Salzstraße 57 vor dem beschriebenen Brand - Foto Familie Niemer
Salzstraße 57 vor dem beschriebenen Brand - Foto Familie Niemer

Am Samstag, dem 28. Oktober, kamen Helga (Nichte Helga von Klot-Heydenfeldt, geb. Niemer) und ich nach dem Terrorangriff auf Münster aus dem Bunker Lotharingerstrasse, gegen 3 Uhr nachmittags und hörten auf dem Wege dahin schon in der Neubrückenstraße, wie eine Frau zu einer anderen sagte: „dort wo früher Woolworth war“. Schlimmes ahnend eilten wir zum Roggenmarkt und sahen alles in Rauch gehüllt und die vielen Pyramiden des gerade neu notgedeckten Riesendaches der Lambertikirche in hellen, lodernden Flammen und auch das Flammenmeer der beiden Schütte‘schen Häuser.

 

Zum Markt gelangend, sahen wir, dass der ganze große Woolworthladen unseres Hauses Salzstraße 57 schon ein Feuermeer war.

Blick auf den Prinzipalmarkt Herbst 1944 - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Blick auf den Prinzipalmarkt Herbst 1944 - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)

Darüber im ersten Stock die Küche der Weinstube zeigte starke Brandspuren über den Fenstern. Die übrigen Fenster der Weinstube und des Probierzimmers an der Straße waren noch dunkel, ebenso der zweite Stock und das Dach brannten nicht. Wir sahen, wie mein Bruder, sein Freund Major Hertmanni und der Prokurist Haberland mit anderen Personen alle wichtigen Geschäftsbücher und Akten, Briefordner und die Büromaschinen in Sicherheit auf den Lamberti-Kirchplatz brachten, von wo sie später mit Lastauto nach Billerbeck ins Ausweichquartier gebracht wurden.

Weinhandlung Niemer – rückwärtiges Gebäude Syndikatgasse 4/5 im Jahre 1945
Weinhandlung Niemer – rückwärtiges Gebäude Syndikatgasse 4/5 im Jahre 1945
Sommer 1945 - Der Prinzipalmarkt - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Der Prinzipalmarkt - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster

Als ich auf dem Kirchplatz Wache bei den Sachen hielt, stürzte das Lamberti-Kirchendach lodernd in Flammen in die Kirche hinein unter größtem Getöse.

 

Während Helga, als sie das brennende Haus Salzstraße sah, sagte: Vater hat es immer schon geahnt, nun ist es das Ende , erblickte sie nun auch die hellen Flammen aus dem holzkonstruierten Rathaussaal hervor lodern, und als sie den kahlen herrlichen Giebel des Rathauses allein noch in die Lüfte ragen sah vor den Flammen des herrlichen Baues, fing sie bitterlich an zu weinen und wollte sich nicht trösten lassen.

Freitag, 3. November 1944 - Der zerstörte Prinzipalmarkt

Sommer 1945 - Der Prinzipalmarkt - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Der Prinzipalmarkt - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Blick auf das Rathaus - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Blick auf das Rathaus - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster

Nachmittags gegen vier Uhr etwa wartete ich an der Ecke Michaelisplatz neben dem Auto von Clemens Droste-Hülshoff auf diesen, der in der Regierung noch kurz zu tun hatte. Aus dem beschädigten Regierungsgebäude trugen Arbeiter das Inventar und die Möbel zu den Lastautos heraus. Der Markt war am hellen Tage fast menschenleer und bot ein trostloses Bild. In keinem Hause merkte man irgendwelches Leben. Vor mir lag die Ruine unseres herrlichen Rathauses. Nur die untermauerten Bögen mit den Säulen standen noch, sowie die äußeren unteren Teile des Festsaales, nur noch die Eckpfeiler und seitlichen Frontfenster und aus diesen das Maßwerk herausgebrochen. Von dem Figurenschmuck standen nur noch an der nördlichen Ecke der hl. Ludger, in der Hand die Ludgeri-Kirche tragend, daneben noch die Madonna mit dem Kinde, der hl. Michael und an der südlichen Ecke ein Bischof? (Zum Hause Ostendorf hin).

Sommer 1945 - Der Drubbel - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Der Drubbel - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Der Prinzipalmarkt - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Der Prinzipalmarkt - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster

Vom ganzen herrlichen gotisch holzkonstruierten Dach nichts mehr zu sehen. Man sah durch die zerstörte Front bis auf das Polizeigebäude am Syndikatplatz. Der herrliche Treppengiebel des Ostendorf-Hauses auch ganz zerstört, nur noch ein Trümmerfeld. Das Stadtweinhaus ausgebrannt, seines Balkons auf Säulen beraubt und mit öden Fensterhöhlen. Das Stuhlmachersche Haus ein Trümmerhaufen, aus dem noch dichter Brandrauch zum Himmel stieg.

Sommer 1945 - Der Rathausgiebel  - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Der Rathausgiebel - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Der Prinzipalmarkt - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster
Sommer 1945 - Der Prinzipalmarkt - Foto Carl Pohlschmidt - ULB Münster

Das ehemalige Hotel König von England mit total zerstörter südlicher Eckfront, alle anderen Häuser an dieser Marktseite dahin und an der Domseite des Marktes auch zahlreiche zerstörte Gebäude. Die herrliche St. Lamberti Hauptkirche ist ihres gerade fertig gewordenen Notdaches durch die Feuersbrunst beraubt. Nur die grandiose Tür, noch stolz und unversehrt, schaute auf das trostlose Bild des früher so wundervollen, stets belebten, von regem Treiben erfüllten und von promenierenden „Bogengängern“ belebten herrlichen Städtebildes.

Kleines Schlusswort

Carl Eduard Niemer belegt auf besondere, beeindruckende Weise seine tiefe Verbundenheit zu seiner Heimatstadt. Die Schilderung des Lebens im ausgehenden 19. Jahrhundert zeigt Münster kleinstädtisch, betulich und liebenswert. Dazu im Gegensatz Münster im Jahr 1944: Menschen werden mit grausamer Wucht dem Bombenkrieg mit all seinen Zerstörungen hilflos ausgesetzt. Die Stadt hat sich weitgehend in eine einzige Trümmerwüste verwandelt.

 

Die nebenstehende Todesanzeige konnte erst zehn Monate nach dem Tode von Carl Niemer verschickt werden. Die damaligen chaotischen Umstände geben uns einen kleinen Einblick, wie die Lebenssituation kurz nach Kriegsende war.

 

Für die Bereitstellung der Aufzeichnungen danke ich Frau Dr. Demmer und Herrn Dr. Schaub sehr herzlich.


Quellen

Text: Carl Eduard Niemer

Transkription: Dr. Sybille Demmer, Dr. Stefan Schaub

Redaktion: Henning Stoffers