im Juni 2021

Liebe Leserin, lieber Leser,

Berti Schulte-Wintrop geb. Bunsmann wird 1891 in Münster geboren. Sie führt Tagebuch und hat die Erinnerungen an ihre Zeit in Münster im Tagebuch Nr. 1 festgehalten.

 

Berti schreibt über die große Liebe ihres Lebens, von den Dinge des Alltags und über die Kriegsjahres des 1. Weltkrieges und dem Kriegsende in Münster. Ergreifend ist ihre Schilderung über das Sterben ihres geliebten Vaters, der als angesehener Arzt in Münster seinen Beruf ausübte. Sie erinnert an ihre Erstkommunion und an Professor Landois, den sie zu dessen Lebzeiten kennenlernte.

 

In gutsituierter, katholischer Bürgerlichkeit erlebt Berti die ruhigen und unruhigen Zeiten des beginnenden 20. Jahrhunderts. - Berti Schulte-Wintrop hat der Nachwelt ein farbiges Zeitgemälde aus längst vergangenen Tagen hinterlassen.

 

Frau Dr. Jutta Schlia-Zimmermann, Enkelin von Berti, hat mit großem Zeitaufwand den umfangreichen Text transkribiert und das Bildmaterial zur Verfügung gestellt. Ich danke ihr sehr herzlich.

 

Ihr Henning Stoffers


Vorwort Dr. Jutta Schlia-Zimmermann

Liebe Leserinnen und Leser,

vor Ihnen liegt die Abschrift des ersten Tagebuches meiner Großmutter, Berta Bunsmann, geb. 1891 in Münster. Sie starb am 23.3.1969.

Dr. Jutta Schlia-Zimmermann
Dr. Jutta Schlia-Zimmermann

 

Frisch verliebt widmet sie es  ihrem Verlobten Carl Schulte- Wintrop, meinem Großvater. Beide begleiteten meine Kindheit und Jugend in Fritzlar, wo ich mit Eltern und Geschwistern in ihrem Haus lebte, wodurch sie mir sehr nahestanden. Ihre 2. Tochter Pia war meine Mutter. Von dieser übernahm ich die Tagebücher.

 

In Münster erlebte Großmutter eine unbeschwerte Kindheit und Jugend als Älteste von 5 Geschwistern in einem wohlhabenden Elternhaus am Neuplatz. Sie besuchte die höhere katholische Mädchenschule und durfte studieren. Sie schildert, wie sie ihren Verlobten beim Juristenball kennenlernte und wie Familie und die weit verzweigte Verwandtschaft reagierten.

Vater Dr. Heinrich Bunsmann, Sanitätsrat und bekannte Persönlichkeit, achtete sehr auf die Kontakte der 4 Töchter. Der Verlobte Carl, Jurist, fand seine Zustimmung. Jedoch konnte die Hochzeit erst nach dem Ersten Weltkrieg stattfinden.

 

In weiteren Tagebüchern schildert sie ihre Jahre in Fritzlar mit den eigenen 5 Kindern, der Nazizeit, der Kriegs- und Nachkriegszeit und ihrer wachsenden Enkelschar. Sie war immer ein Mittelpunkt der Familie, die sie liebte, wie „ihr Münster“.

Die Tagebücher insgesamt
Die Tagebücher insgesamt

Nun bin ich selbst 70 Jahre alt und im Ruhestand, was mir ermöglicht, diese Tagebücher zu transkribieren. Hierbei eröffneten sich einige erstaunliche Erkenntnisse zur Person meiner Oma: z.B. dass sie  zeitweise kräftig rauchte, was ihrem Verlobten nicht gefiel. Und dass sie geprägt von einem konservativ- katholischen Elternhaus Vorbehalte gegenüber den jüdischen Bürgern hatte.

 

Die Erinnerungen der Großmutter an den Professor Landois führten mich über Recherchen zu der Internetseite von Herr Stoffers. Sein spontanes Interesse und Engagement haben mich sehr motiviert. So kam dieser Beitrag zustande.

 

Omas 5 Kinder sind verstorben, aktuell leben 72 Nachkommen: Enkel, Urenkel und Ururenkel.

Über diesen Beitrag

Die Erinnerungen werden ungekürzt veröffentlicht. Zuvor war überlegt worden, neben dieser Version auch eine kürzere anzubieten. Gegen diese Idee haben wir uns entschieden, weil das Besondere, der Reiz und der Charme der Original-Fassung verloren gehen würde.

Dr. Jutta Schlia-Zimmermann - Henning Stoffers


Erinnerungen an das alte Münster

Tagebücher von Berti Schulte-Wintrop geb. Bunsmann

 

 

 

Was vergangen, kehrt nie wieder

Aber, ging es leuchtend nieder,

leuchtet's lange noch zurück

Förster

 

Meinem lieben Carl zum Namenstag gewidmet von seiner Berti

Münster i. Westfalen, den 4. November 1914

 

Münster, den 10. Okt. 1914

Der Anfang des 1. Tagebuches
Der Anfang des 1. Tagebuches

In schwerer, ernster Kriegszeit will ich jetzt von unserer Liebe erzählen. Das passt nicht gut zusammen, und es wird mir manchmal schwer, mich in dieses Idyll zu versetzen.

 

Bin ich aber erst einmal eingetreten in diese blühenden Gärten der Vergangenheit, so freue ich mich, und jeder Strauch und Baum und alle Blumen sind mir lieb und bekannt.

 

Nächsten Februar sind wir drei Jahre verlobt. Zu Carls Namenstag am 4. November will ich ihm dieses Buch nach Fulda schicken. Er hat sich schon lange solche Aufzeichnungen von mir gewünscht, und ich weiß in diesem Jahr und bei meiner ewigen Geldverlegenheit auch kein besseres Geschenk. So will ich denn beginnen und alles schlicht und kurz so aufschreiben wie`s geschehen ist.

Berti lernt Carl kennen

Berti um 1917
Berti um 1917

An welchem Tag wir uns kennenlernten und heimlich verlobten, kann ich nicht sagen.

 

Jedenfalls hatten wir uns früher noch nie gesehen, obgleich wir beide in Münster wohnten. Jeder kann von sich behaupten: Veni, vidi, vici.

 

Es war 1912 im Februar. Onkel Heinrich Ebert schenkte Pia und mir, wie er es schon früher getan hatte, Karten zum Fastnachtskränzchen der Juristen im Kasino. Pia hatte ein sehr hübsches Bulgarinnenkostüm, das ihr sehr gut stand. Sie ließ dabei in Zöpfen ihr schönes dickes Haar hängen. Ich hatte auf den Maskenbällen in jenem Jahr eine Japanerin vorgestellt. Allmählich aber bekam ich die Wut auf das dumme, steife, protzende Kleid, von dem immer Gold abrieselte, und erreichte es, für den Juristenball noch ein Carmenkostüm zu ergattern. Wir waren wirklich sehr unternehmungslustig an jener Fastnacht. Samstag vor den drei Karnevalstagen fand abends das Fest statt.

 

Ich sauste schon am Nachmittag um 3 Uhr zur vielbeschäftigten Friseuse, wo viele bekannte Mädchen versammelt waren. Gegen Abend kam Tante Toni Uedinck, um uns in unserem Staat zu besuchen, wie wohl Tanten so zu tun pflegen. Es war uns eigentlich unangenehm. Ich weiß noch wie heute, daß sie mir die roten Blumen im Haar zurechtzupfte.

Carl um 1917
Carl um 1917

Ich hatte mir vorgenommen, mich recht zu amüsieren, weil ich Ostern wieder anfangen wollte, zu studieren. Das Maskengewühl in dem großen Saal und den anschließenden kleineren Sälen begann. Nach einer Polonaise begab man sich zum Souper in die unteren Räume. Unser Tisch war der zweite rechts vom Eingang. Mein Tischherr war Assessor Funke. Der war zum Amüsieren gerade gut genug. Gegenüber saßen Berta Hüffer (1888-1971 - Tochter von Obergürgermeister Dr. Max Jungeblodt), ein stilles Mädchen, und ihr Tischherr, anscheinend ein Referendar, und auch still. Der sah mich häufig an. Wenn ich so recht mit Funke herumtobte, sah ich plötzlich die Augen meines Gegenübers fest auf mich gerichtet. Ich dachte: was ist das wohl für ein kleiner Referendar? und scherzte und kokettierte weiter, konnte aber eine Befangenheit nicht loswerden. Mein Nachbar zur Rechten, ein Assessor Martin, machte leise den Vorschlag, das stille Paar auf der anderen Seite etwas aufzuheitern und zum Reden zu bringen.

 

Dem Partner der Berta Hüffer war aber anscheinend gar nicht darum zu tun. Zum Nachtisch gabs ganz komisches Eis, das wie Mörtel mit Rosinen schmeckte.

 

Dann begann wieder der Tanz. Nach der Runde mit dem Tischherrn engagierte mich der Referendar mit den durchdringenden Augen. Gerade rauschte der Faustwalzer durch den schönen weiß- rot- goldenen Saal. Wir waren ohne Mühe eingetanzt und fingen ein lebhaftes Gespräch an. Er erzählte von seiner Schwester Ella, die ich wohl bei den Tuiskoen gesehen hatte, und die ebenso wie ich angefangen hatte, Gitarre zu spielen. Als dann die Teufelinnen in rot und schwarzen Tarlatankleidern auftraten und ein feuriges Ballett in unheimlicher Beleuchtung tanzten, stellte ich mich auf das rote Samtpolster, das sich längs der Wände hinzieht, und auf dem Parkett neben mir ganz dicht stand mein Tänzer. Ich zeigte ihm Pia, die auch bei der Höllengesellschaft war, und er fand sie sehr nett. In den ersten Tagen habe ich häufig gemeint, er verehre nicht mich, sondern Pia. Das war für mich kein angenehmer Gedanke. Unterdes ging die Lust des Abends weiter. Wir tanzten häufig zusammen, und wenn wir nicht tanzten, plauderten und rauchten wir in einem der Nebensäle. Ganz gemütlich hatten wir uns dort in zwei Klubsesseln vergraben „ loin du bal“. Er erzählte mir von seinem Vater und auch dem Familiensitz vom Kreisphysikus und Kreisvieh. Was ich schwätzte, weiß ich nicht mehr, jedenfalls verabredeten wir ein Zusammentreffen im Automobilklub am Montag, obgleich ich noch gar nicht wusste, ob das Vaters bestimmte Absicht war.

 

Beim Abschied nach diesem denkwürdigen Ball stand mein Verehrer oben an der Treppe und gab mir die Hand, und neben ihm stand noch einer und machte ein böses Gesicht.

 

Der Sonntag verging, der Montag kam, und wir gingen wirklich am Abend in den „König von England“. Da war ein toller Betrieb; aber ich schaute sofort nach meinem neuen Freund aus. Er war da und saß beim Essen zwischen Pia und mir, gleichmäßig seine Liebenswürdigkeit nach beiden Seiten verteilend. Ich war selig = aufgeregt. Vater machte das bekannte finstere Ballvatergesicht und verfolgte uns, wenn wir tanzten mit Blicken stillen Vorwurfs. Beim Nachhauseweg gingen wir hinter Mutter, Vater und Pia, welche sich eingehakt hatten, her. Es war gut, dass sie nicht oft umschauten. Als ich Pia später anvertraute, welcher Art unsere Unterhaltung gestern war, entrüstete sie sich sehr. Doch hat sie es später nicht besser gemacht. Vor unserem Haus angelangt, lud Vater unseren Begleiter noch zu einem Gläschen bei uns ein, was er sonst niemals zu tun pflegte. Ich atmete auf, aber der Herr dankte und verließ uns, indem er meinen Fächer behielt und mir seine Visitenkarte überreichte. Er musste also gemerkt haben, dass ich seinen Namen noch nicht genau kannte. Der Schlüssel krachte im Schloss, die Schritte verhallten auf der dunklen Straße.

Verlobung

Berti bei einer Kahnfahrt
Berti bei einer Kahnfahrt

Ich drückte das Veilchensträußchen an mich, das er mir geschenkt hatte und behielt es in der Hand, als ich mich zu Bett legte. Die ganze Nacht war ich wach und schlug mich mit wirren Gedanken herum. Eine Flut von Glück, Zweifel und Angst stürmte heran. Ich fürchtete eine Enttäuschung zu erleben.

 

Als ich am Dienstag aus der Gitarrenstunde kam, wurde ich ins beste Zimmer gerufen. Da saß mit Zylinder und Besuchshandschuhen mein Rechtsanwalt Carl Schulte-Wintrop.

 

Ich war immer noch nicht sicher, ob er meinetwegen kam. Er fragte, ob er uns noch mal besuchen kommen dürfte und fuhr dann wieder nach Hamborn, wo er seit einigen Wochen wohnte.

 

Die lange Fastenzeit verging in Hangen und Bangen. Zwei Postkarten, von denen ich die letzte mit Mutters Erlaubnis beantworten durfte, brachten einige Lichtstrahlen hinein.

 

Endlich, drei Wochen vor Ostern sagte er sich wieder an und kam am Samstagnachmittag. Der Besuch war nicht gerade angenehm um diese Zeit; denn die ganze Familie war damit beschäftigt, Bilder im besten Zimmer aufzuhängen. Wir hatten alle schmutzige Hände. Schnell zogen Pia und ich uns um und schleppten ihn aus der Verwirrung in den Schlossgarten. Da soll ich nach Pias Urteil sehr dumme sonderbare Reden geführt haben und mich sehr verlegen benommen haben. Er blieb den Abend bei uns, und wir luden ihn und seinen Bruder Fritz zu einer Autofahrt am nächsten Tag ein. Onkel Heinrich wurde als Garde bestimmt.

Vater Heinrich beim Impfenmit derr damals üblichen Lanzette
Vater Heinrich beim Impfenmit derr damals üblichen Lanzette

Sonntagnachmittag um 3 Uhr standen die drei Herren im Salon. Dieses mal überreichte mir mein Freund Maiglöckchen. Im Wagen saßen wir schräg gegenüber. Wieder diese seltsamen Blicke! In Hohenholte gab’s ein Kaffeestündchen. Einmal fasste mich der Herr Rechtsanwalt sehr vertraulich am Arm, und ich dachte: „Er ist ein Schuft, wenn er nun doch Pia gemeint hat.“ Auf einem Baum sitzend wurde die Gesellschaft von Pia fotografiert. Dann ging die Fahrt weiter nach Nienberge. Da stiegen wir auf die Hügel zum Maikräuter suchen. Carl und ich immer ein gutes Stück hinterdrein. Wir nahmen uns vor, Onkel Heinrich für seinen Schutz und sein väterliches Interesse für uns angehendes Brautpaar immer recht dankbar zu sein. Wenn ich im Frühling jetzt nochmal auf die Nienberger Hügel komme und die zart belaubten Bäume sehe, den starken Maikräuterduft rieche und die ersten Vogellieder höre, dann rinnt mir noch das selige Gefühl erster Liebe durchs Herz. Am Herdfeuer bei Kinnebroker in der rauchgeschwärzten Küche saßen wir fünf dann noch gemütlich beisammen.

 

Carl und ich hielten uns an den Händen, und Onkel Heinrich schaute verschmitzt und bedächtig in die roten Flammen. Es war schon stockdunkel als wir nach Haus sausten.

 

Mutter hatte uns ein Abendessen zurecht gemacht, die Sülze dazu hatte ich am Samstag gekauft und war glücklich, als sie Anklang fand und verschwand. Später scharten wir uns im Wohnzimmer um die Maibowle und Franz und Lilli, die beiden Kleinen, wurden eben vorgeführt. Nur Vater fehlte. Er war in diesem bedeutungsvollen Moment zum Stammtisch ausgerissen. Da gebrauchte Onkel Heinrich eine Kriegslist. Er telefonierte ihn zu einem schlimmen Fall im Hause Neuplatzstr. 17 heran. Vater roch Lunte, erschien aber doch und machte schreckliche Grimassen. Die ganze Geschichte war ihm offenbar unbequem.

 

Fritz erzählte in einem fort, wie ich ihn seitdem nie wieder habe erzählen hören, und es ging alles ganz gut ab.

 

Am nächsten Morgen kam Carl zum Abschied. Es war außer Pia und mir niemand von der Familie zu Hause, und die saß noch gerade in der Dunkelkammer im Keller und entwickelte die Aufnahmen von gestern. Es wurde mir alleine mit meinem Besuch etwas seltsam zu Mute, und ich schrie nach Pia. Die wollte kommen, weil sie dachte es wäre was passiert, verdarb dadurch die Platten, die später aussahen, als sei in unserer Mitte eine Bombe geplatzt, und kam schließlich doch nicht.

 

Dann blieb Carl wieder 3 Wochen in Hamborn, und es begann unser Briefwechsel, der heute schon auf beiden Seiten einen Berg von Papier angesammelt hat. Er bat Vater schriftlich um seine Einwilligung zu unserer Verlobung. Es begann in unserer Familie ein reges Nachfragen und Überlegen. Vater war sehr in Sorgen und gab erst nach gründlichem Erwägen seine Zusage. Darauf wünschte Carl, dass ich seine Mutter besuchte. Mit geheimer Angst, obgleich Vater gesagt hatte, ich brauchte mir nichts gefallen zu lassen, zog ich eines Nachmittags zur Hoyastraße mit weißen Glacéhandschuhen. Ich dachte, eine große, strenge Schwiegermutter vorzufinden und sah mich einer kleinen, zarten und liebenswürdigen Dame gegenüber. Maria, Carls Schwester saß neben ihr. Wir sprachen ganz ungezwungen miteinander und mein Herzklopfen verschwand allmählich. Das war der erste Besuch bei der Schwiegermutter.

 

Gründonnerstagabend kam mein lieber Bräutigam wieder unerwartet. Ich stand gerade am Leinenschrank und öffnete selbst die Tür, als es schellte. Carl hatte einen Strauß prachtvoller roter Nelken, wie ich sie seitdem nicht wieder gesehen habe, in der Hand, und ich trug meine alte blaue Küchenschürze. Einen Augenblick waren wir allein im Wohnzimmer. Es entstand ein verlegenes Stillschweigen; denn zum ersten Male standen wir uns als rechtmäßige Brautleute gegenüber. Das machte uns für einen Augenblick verwirrt.

 

Ostersonntag war Carl unser Tischgast, Ostermontag waren wir mit Pia bei Schultens. Da waren gerade Erna und Gertrud Lederle zu Besuch. Zur Schau der Osterfeuer machten wir eine Rundfahrt über Roxel, Hohenholte und Nienberge. Mit den Feuern um die Wette brannte unsere erste ungestüme Liebe.

 

Am Dienstag gab’s einen Abschied mit Tränen meinerseits für wieder drei Wochen. Von da an sahen wir uns jede zweite Woche oder noch öfter, solange Carl in Hamborn wohnte. Samstagsabend stand ich um 7:52 an der Bahn und wartete sehnsüchtig, bis er sich aus der Schar der Reisenden loslöste und auf mich zu kam, und montags um 12:08 stand ich wieder dort und sah den Zug langsam aus der Halle fahren und Carl noch aus einem Fenster winken. Der Montagmorgen war mir schließlich arg zuwider, und wenn ich allein wieder nach Haus traben musste, war mir stets das Weinen näher als das Lachen.

 

Am Tage nach Lillis Erster hl. Kommunion, am 14. Mai wurde Carl noch krampfhaft verborgen gehalten. In der Stadt sprach man jedoch schon viel von unserer bevorstehenden Verlobung und hatte uns auch häufig zusammen ausgehen sehen.

 

Es war uns zu dumm, der Leute wegen Verstecken zu spielen.

 

Am 20. Mai, einem schönen Sonntag sollte es dann endlich öffentlich werden. Die Anzeigen wurden rumgeschickt und der obligate Empfangstag mit allem Glanz abgehalten. Schon mehrere Tage vorher wurden in einem fort Sträuße, gefüllte Schalen und Vasen und Blumenkörbe geschickt. Wir haben 48 Blumenspenden gezählt, das war alles ganz schön, aber gräßlich war die Defiliercour der Gratulanten. Das Zimmer war oft so voll Menschen, dass Carl und ich ganz an die Wand gedrückt wurden, dazu war es warm. Möcklinghoff sagte darum auch sofort beim Eintritt: „Ich schwitze wie ein Hund“.

 

Am Abend dieses anstrengenden Tages hatten wir ein kleines Familienfest inmitten der blühenden, duftenden Pracht. Der große Esszimmertisch war mit dunkelroten Sommerrosen geschmückt. Mutter Schulte wurde mit dem Auto abgeholt, weil sie noch nicht ganz von einer schweren Winterkrankheit genesen war. Sie wurde aber in der heiteren Tafelrunde fröhlich und gesprächig. Alle Augen leuchteten, der Wein glänzte goldig und dunkelrot wie die Rosen in den Gläsern, man trank dem Brautpaar zu und war in glücklicher Feststimmung. Wir gefielen uns sehr in der neuen Rolle.


Bertis Zeugnisse

Ausflüge, Sorgen und unbeschwerte Jahre

Den Pfingstausflug machten wir im Auto nach Arnsberg, Vater, Onkel Alex, Pia, Carl, ich und Franzi. Es war schönes Frühlingswetter, der Arnsberger Wald trug noch die Spuren eines starken Sturmes, der einige Tage vorher da gehaust hatte. Carl zeigte mir in einem Tal links von der Landstraße den alten Wintroper Hof. Er lag sehr geschützt und schön. Auf der Rückfahrt fuhren wir nicht wieder über Soest sondern über Werl und machten Halt bei Lederles. Wir fanden einen anheimelnden, anregenden kleinen Familienkreis in einer traulichen Häuslichkeit vor und wurden wie es dort Sitte ist, sehr gastfrei aufgenommen. Die Hausfrau Tante Maria war verreist und wurde vertreten durch Tante Anna Löcke aus Olsberg. Es wurde auch der berühmte Herrgottsacker aufgetischt und erst in tiefer Nacht kamen wir nach schneller Fahrt in Münster an.

Sanitätsrat Dr. Bunsmann voll Stolz in seinem Auto, welches damals eines der wenigen in Münster war. Auf dem Schoß hat er den Hund Bob.
Sanitätsrat Dr. Bunsmann voll Stolz in seinem Auto, welches damals eines der wenigen in Münster war. Auf dem Schoß hat er den Hund Bob.

Um die Zeit wurde Mutter Schulte schwer krank. Maria und eine barmherzige Schwester pflegten sie. Wir anderen durften nicht zu ihr und saßen still und bedrückt in den anderen Zimmern. Vater sah ernst aus, wenn er aus dem Krankenzimmer kam. Er hatte nicht viel Hoffnung. So gut es ging, habe ich versucht Carl zu trösten, doch da kam ein Tag, wo es ihr ein klein wenig besser ging. Ihre an und für sich widerstandsfähige Natur überwand das Fieber und die Herzschwäche. Bald durfte Carl und ich an ihrem Bett sitzen und ihr etwas erzählen. Sie selbst durfte noch nicht sprechen. Dann wagte man beim warmen Sommersonnenschein eine Wagenfahrt und zuletzt kleine Spaziergänge auf die Kreuzschanze. Uns allen fiel ein Stein vom Herzen. In diesen ersten Sommer fällt unser Gang in die Coerheide mit Folgen. Es war an einem Werktag bei ganz miserablem Regenwetter, als wir es nicht mehr in den Stuben auf der Hoyastraße, in denen wir schon den ganzen Vormittag gehockt hatten, aushalten konnten und in alten Mänteln, Schuhen und Hüten hinaus pilgerten. Der Umstände wegen war der Ausflug eigentlich besonders reizvoll. Am Abend aßen wir bei Schultes und dann stiefelte ich vergnügt und ahnungslos nach Haus. Man empfing mich mit beängstigender Kälte. Vater hatte sich erzürnt, daß ich so lange fortgeblieben war, ohne daß man wußte, wo ich mich die ganze Zeit aufgehalten hatte. „Ich will wissen, wo ich meine Kinder habe“, hatte er gesagt und sagt es noch häufig. Da ich mich in dem Augenblick ganz ruhig und schuldlos fühlte, wollte mir der Grund von Vaters Verstimmung nicht einleuchten. Ich hielt es nicht für nötig, um Verzeihung zu bitten und trotzte. Eine Woche lang sagte Vater nichts zu mir, und Carl war natürlich auch nicht bei mir. Da habe ich mich endlich entschlossen und bin zu ihm gegangen und habe mit ihm geredet. Alles war wieder gut. Ich habe mir aber bei diesem Fall vorgenommen, stets bei Verstimmungen eine freie Aussprache zu führen und es nicht durch trotziges Schweigen zu verschlimmern. Allmählich sah ich auch ein, daß Vater im Gefühl seiner elterlichen Verantwortung so handeln mußte.

 

Carl brachte samstags meist seine Geige mit, und wir haben viel musiziert in diesem Jahr. Nur Schachspielen wollte nicht in meinen Kopf.

 

In der Zeit, als die Äpfel in Lederles Garten reif waren und man gerade Winterhüte aufgesetzt hatte, es wird also wohl im Oktober gewesen sein, wurden Mutter, Carl und ich für einen Tagesausflug in Werl eingeladen. Jetzt schwebt mir noch ein sehr vergnügtes Schäferstündchen in dem grünen „Salon“ der Kleinbahn Hamm – Werl vor. Mutter nickte ein bisschen ein über einem Buch, und wir fuhren gemütlich durch lauter kleine Ortschaften und Obstgärten. In Werl war jetzt die lebhafte intelligente Tante Maria am Steuer, und Mutter I. und Maria waren zu Besuch dort. Carl spielte mit Onkel Otto eine endlos lange Schachpartie.

 

Am 4. Juli meinem Namenstag fuhr ich nach Holland zu Tante Toni. Am Sonntag vorher hatten wir gefeiert und Carl hatte mir mit allerlei sinnigen Geschenken viel Vergnügen bereitet. Da er von Tante Änne im Haag eingeladen war und am 20. nachkommen wollte, fuhr ich frohen Mutes ab. Onkel Jahn hatte ein schönes Segelboot einen buyer, den Albatros, bei Leiden auf der Kaag liegen. Ich lernte nun das frohe, ungezwungene Seglerleben kennen. Wir mußten allerdings zwanzig Minuten mit der Bahn fahren, ehe wir in Warmond waren, wo der Jachthafen liegt „van de Zeilspoortvereeniging de Kaag“.

 

So konnten wir uns den Sport fast nur sonntags erlauben. Endlich kam Carl an. Er schlief also bei Tante Änne auf der Regentesselaan. Morgens trafen wir uns auf dem Boulevard vorm Kurhaus in Scheveningen, tauchten ins frische Meerwasser und trafen uns darauf an der selben Stelle wieder. Dann kauften wir Vorräte und zogen in einen Strandkorb oder auf die Dünen. Da haben wir stundenlang gesessen, aufs Meer hinausgeschaut und wacker gefaulenzt. Stets nahmen wir hierher ein Schachbrett mit; aber meist kamen wir bald auf unsere Hauptbeschäftigung, das „Dösen“ zurück. Oft begaben wir uns zum Frühstück in die Poten und blieben dann bis zum Tee bei Tante Toni. Darauf gab’s einen Bummel im Haag, in Scheveningen oder in den „baschies“. Zum Essen waren wir stets bei Bakkers. Wir waren auch einige Male eingeladen. Uns zur Ehre gab Tante Änne ein feines, kleines Diner. Mit Jan Meddens fuhren wir die holländische Küste ab bis Hoek van Holland, wo die großen Dampfer liegen und durch das Westland mit seinen reichen Kulturen. Wir wohnten einem Obstverkauf in einer riesigen Halle mit

amphitheatralischen Sitzen und einer eigenartigen elektrischen Tafel bei. An zwei Sonntagen hat Carl mitgesegelt. Einmal war sogar Wettstreit auf der Kaag und dem Kever. Es war sehr warm und wir haben alle geschwommen. Am letzten Sonntag waren wir zu 10 Personen auf dem Albatros: Onkel Jan und Tante Toni, Onkel Willy und Tante Änne, ein eingeladener Herr mit Gemahlin, Carl und ich, Heini Gescher, Jaques van Hagen und Lloyd, der Schiffer. In der Kajüte war die kleine Tafel gedeckt für eine reichhaltige Mahlzeit. Gesang und heitere Tischreden hallten in den friedlichen Sommerabend hinaus. Nach zweiwöchigem Aufenthalt reiste Carl wieder ab. Ebenso lange blieb ich noch da und verließ dann auch das gastliche schlemmerhafte Holland. Auf der Rückreise traf ich Carl in Duisburg am Bahnhof für einige Minuten.

In Münster begann wieder die alte Reihe der arbeitsreichen Werktage und schönen Sonntage bis Onkel Heinrich und Tante Anna mich eines Sonntags mit nach Hamborn nahmen. Wir wohnten bei Brauns auf der Sophienstraße alle drei. Hamborn kam mir fremd vor. Rauchende Schlote, pfeifende, heulende, schnurrende Zechen und Bergarbeitervolk waren mir gänzlich neu. Wenn ich nachts in meinem weiß – roten Mansardenstübchen schlaflos von dem ungewohnten Lärm im Bett lag, war stets ein roter Wiederschein von den Werken an der Decke. Dann trat ich wohl ans Fenster und schaute in die schwarze Nacht, von der sich blutigrot der Feuerschein und dicke Dampfwolken aus den glühenden Öfen abhoben.

 

Am Sonntag war mittags Gesellschaft bei Brauns, wobei auch der Oberbürgermeister Dr. Schrecker, bei dem Onkel Heinrich früher gearbeitet hatte erschien. Er hatte eine Narbe an der Stirn vom letzten Bergarbeiterstreik, den Carl auch noch mitgemacht hatte. Abends waren die selben Leute bei Kraushaars. Es wurde je später desto fideler. Am nächsten Morgen fuhren Eberts fort. Ich blieb noch bis zum nächsten Samstag. Gegen Mittag wanderte ich immer durch den entsetzlichen Hamborner Dreck oder fuhr mit der klapprigen Elektrischen zu Carls Büro auf der Jägerstraße 28 und holte ihn zum Essen nach Brauns.

Dr. Jutta Schlia-Zimmermann: Diesen Besuch in der Zeche Hamborn schildert Oma.  Opa Schulte war damals als Jurist für die Zeche tätig.
Dr. Jutta Schlia-Zimmermann: Diesen Besuch in der Zeche Hamborn schildert Oma. Opa Schulte war damals als Jurist für die Zeche tätig.

Herr Braun ist Beamter an der Zeche Neumühl. Er hat mit uns eine Einfahrt in die Grube gemacht. Beinahe drei Stunden sind wir in den schwarzen Gängen und Stollen herumgegangen und gekrochen. Dumpf riefen uns die arbeitenden Bergleute ihr „Glückauf“ zu. Über unsere groben Stiefel huschten die Ratten. Wir patschten durch tiefe schwarze Lachen und kletterten enge Gänge hinauf und hinab. Alle Augenblicke stieß ich mir den Kopf. Ich sah aus wie Carl und trug auch einen Stock und die Grubenlaterne. Als wir aus der Hitze und den ewigen Kohlen rauskamen waren wir pechschwarz und mußten alle ein heißes Bad nehmen. Bei jeder Wanne lag eine große Bürste. Zum ewigen Angedenken haben wir uns in unseren Anzügen photographieren lassen.

 

Nach 7 Tagen nahm Carl mich also an einem Samstag wieder mit nach Münster. Wir blieben die ganze Fahrt über im Speisewagen, und es war sehr gemütlich. Zu Haus herrschte wieder etwas Mißstimmung, weil ich so lange ausgeblieben war. Ich würde es auch jetzt nicht mehr tun.

 

Auf das Weihnachtsfest, das wir zum ersten mal zusammen feiern sollten, freuten wir uns ganz besonders. Carl kam einige Tage vorher und wir beiden schmückten den Weihnachtsbaum. Ein wunderbarer Zauber herrschte im ganzen Haus und machte alle Herzen froh. Der Heilige Abend wurde auf althergebrachte Weise gefeiert. Wir haben danach häufig den neuen Violinständer benutzt, welchen Carl vom Christkindchen bekommen hatte. Mutter Schulte war leider in Fritzlar. Sylvester und Neujahr waren wir nicht mehr zusammen.

 

Carl war nicht mehr gern in Hamborn und suchte zur Ausübung seiner Praxis eine schönere und einträglichere Stelle. So gab es lange Erörterungen, viele Pläne und Sorgen. Zwischendurch war es manchmal auch wieder ganz nett. So gingen und fuhren wir mit Vater häufig auf die Landpraxis. Bei schlechtem Wetter saßen wir gemütlich im Auto wie in einem Zigeunerwagen, und das lange Warten wurden wir nicht überdrüssig. In Bösensell riß Carl einst einen Wacholderstrauch aus der Wallhecke und pflanzte ihn in unseren Garten. „Loisl“ nannten wir ihn.; aber der Igel sagte: „ Na, das is n’ Quakelstruk“ der Quakelstruk ist windschief und dürr; aber er grünt noch immer.

 

Ostern mußte Carl in Fritzlar sein, wo gerade Ella am Verloben war. Er soll seine Rolle als Amor und Beschützer der Liebenden gut gespielt haben. Während dessen zerbrachen Maria, Fritz und ich uns die Köpfe über den zukünftigen Schwager Rudi.

 

Endlich Pfingstmontag wurde er uns in Münster präsentiert von Onkel Edmund, Tante Maria und der Schwiegermutter. Carl war dazu auch aus Hamborn rübergekommen.

 

Rudi gefiel mir ausnehmend gut.

 

Aus diesem Ausflug ist mir noch erinnerlich der Ausflug nach Althoffs Jagdhütte in Westbevern. Heinrich Waltermann, der just im Feld ist, war auch dabei. Am flackernden Herdfeuer tranken wir eine Maibowle und sangen Studenten- und Jägerlieder.

 

Dann hieß es auf einmal: Carl geht nach Fulda. Am 16. Mai nahmen wir sehr traurig Abschied. Wir sollten uns ja nur noch so selten sehen. Zahllose Briefe ersetzen seither so gut wie möglich den persönlichen Verkehr.


Einladung zur Vermählungsfeier - Beachtlich das Festmenü

Ende Juni kam Carl für wenige Tage. Dann reisten Mutter, die beiden Kleinen und ich an die Ostsee nach Boltenhagen. Am 14. Oktober war Ellas Hochzeit, ein Freudentag für die ganze Familie. Das junge Paar machte eine Mittelmeerreise. Wieder nahte das Weihnachtsfest. Am Heiligen Abend herrschte ungetrübte Freude. Der erste Feiertag brachte für Carl einen heftigen Anfall von Influenza. Er musste auf Vaters Befehl mehrere Tage zu Bett bleiben. So gut es ging habe ich versucht, ihm die Langeweile durch Vorlesen und Plaudern zu vertreiben. Sylvester wurde ich auch etwas krank und durfte nicht das Haus verlassen. Auf der Hoyastraße wurden Ella und Rudolf erwartet und ist das neue Jahr gebührend begrüßt worden. Ich konnte zu Hause brummen.

Erinnerungsblätter an die Hochzeit

Aufwendig sind die ,Erinnerungsblätter' gestaltet, die durch ein Bändchen miteinander verbunden sind. Kleine Gedichte, lustige Verse und persönliche Anmerkungen sind abgedruckt. Auch auf den Halleyschen Kometen wird eingegangen, der wenige Jahre zuvor seine Bahn am Himmel zog.

Die Zeit in Hersfeld

Beinahe hätte ich es vergessen, Pias Verlobung zu erwähnen. Ich muss dabei der Gegenwart gedenken und der Nachricht, die ein verwundeter Jäger in unser Haus brachte: Carl Schäfer ist bei Moorslede an der belgischen Küste schwer verwundet worden und Albert in seinen Armen gestorben. Mit Wehmut denke ich jetzt an die glückliche Zeit zurück, wo Pia und er sich auf Ellas Hochzeit lieben lernten und unterm Weihnachtsbaum verlobten. Welche Nachrichten von ihm werden uns die nächsten Stunden bringen?

 

Ich will in meiner Erzählung fortfahren. Rudolf und Carl verließen Münster sofort nach den Feiertagen. Am 6. Januar nahm Ella den schwarzen Hund Melas und mich mit nach Hersfeld. Wir haben unsere liebe Last mit dem Tier gehabt und es schließlich an Fritz, seinen Herrn zurück geschickt. Der hat ihn dann verkaufen müssen, weil er nach Kiel fuhr. Auf der Hinreise nach Hersfeld besuchten wir Onkel und Tante Bauer in Marburg.

 

Der Weg von der Bahn nach der Stadt war glatt von Eis und Schnee. Die Menschen rodelten. Je weiter wir in die hessischen Berge hineinfuhren, desto winterlicher wurde die Natur. Hersfeld liegt entzückend schön in einem Tal. Carl kam jeden Sonntag. Einmal waren wir alle in Fritzlar. Mir fehlt es an Stimmung, das richtig zu beschreiben, und ich entnehme die Schilderung wörtlich einem meiner damaligen Briefe an Vater und Mutter:

 

Die grausame Kälte hatte heute über Tag etwas nachgelassen. Nun fängt es schon wieder an. Es ist 14 °C und in Fulda noch kälter. Alles erstarrt zu Eis, die kleinen Bäche in den Bergen zu dicken Klumpen und sonderbaren Gebilden, sogar die Fulda ist teilweise zugefroren. – Also Samstagmorgen kam Carl schon ziemlich früh an, aß sehr schnell ein Butterbrot und sauste wieder zur Bahn, weil er am Nachmittag um 4 Uhr Sitzung in Wildungen hatte. Da hörten wir denn zu unserem großen Erstaunen, daß der Zug nach Guntershausen, den er benutzen wollte eine halbe Stunde Verspätung hatte.

Das bedeutete für Carl, daß er dort nicht den Anschluss an den Schnellzug bekäme und nicht mehr in die Sitzung konnte. Die Bahnverbindungen zwischen Hersfeld und Fritzlar sind sehr schlecht. Man fährt über drei Stunden und immer im Zickzack. Wir liefen schnell zur Hersfelder Post; denn an der Bahn war kein Telefon, und fragten bei Onkel Edmund, was zu tun wäre. Da Carl die vorigen Sitzungen auch wegen Verspätung u.s.w. nicht mit gemacht hatte, musste er diesmal auf jeden Fall hin. Sonst hätte er auch nicht die Reisekosten vergütet bekommen. Das Auto konnten Dietrichs nicht stellen, da es auseinandergenommen war. Da mussten wir mit vieler Mühe in Hersfeld eins auftreiben, um noch in Wabern den Anschluss nach Fritzlar resp. Wildungen zu bekommen. Wir hatten kaum Zeit, etwas zu essen. Rudolf wurde vom Büro geholt, alles raste und flog. Denn nun wollten wir der Einfachheit halber selber auch schon mitfahren. Ich hatte mich zufällig schon am Morgen fertig gemacht. Nun stand ich in der Küche und briet Würstchen, während Ella in der Untertaille und Rudolf sich auch in etwas ähnlichem herumbewegten. Da kam das Auto. Es war die allerhöchste Zeit. Das Ehepaar war noch gar nicht fertig, wir standen auf glühenden Kohlen. Da bekam Rudolf auch noch Angst, Ella könne sich bei der Kälte im offenen Auto erkälten, was ja auch nicht so unrecht gedacht war. Schließlich mussten wir beiden allein fahren. In alle möglichen Decken bis an die Nase eingehüllt, Carl mit einer weißen Wollmütze von Ella und ich mit der grünen aus München, ratterten wir hinaus. Um die Hinterräder war ein dickes Kettennetz gemacht, was immer rasselte. Wir mussten schnell fahren. Wenn wir mehr Belastung gehabt hätten, hätten wir es nicht mehr erreicht. Denn es handelte sich zuletzt um Minuten. Durch viele, viele Dörfer und über recht hohe Berge und tiefen Schnee ging die Fahrt. Der Chauffeur fuhr sehr sicher. Zuletzt mussten wir noch über den berühmten Pommer, den höchsten Berg in der Gegend. Dort war alles weiß und einsam. Viele Tannen waren vom Schnee geknickt. Wir saßen zusammengeduckt und rafften unsere Decken fest. Kurz vor Wabern sahen wir von einer Höhe aus den Zug schon in den Bahnhof einlaufen. Wir kamen eben noch recht und waren in zehn Minuten in Fritzlar, wo Onkel Edmund und sein Bruder zu Carl stiegen. Ich musste heraus und allein den Weg zur Marienburg suchen. Dietrichs Haus liegt ungefähr neben dem Dom, hoch über den anderen Häusern, die den Abhang hinunter gebaut sind. So konnte ich es leicht finden und war bald oben. Der Weg wandt sich durch lauter krumme Straßen mit alten Häusern und Gemäuer und engen Gäßchen. Erst ging ich in den Dom und dann nach Dietrichs. Hilde, Tante Maria und die noch sehr frische Großmutter empfingen mich herzlich und wir tranken gemütlich Kaffee. Dann Zeigte mir Hilde das ganze große Haus. Zum Abendbrot kamen auch Onkel Edmund und Carl und zuletzt Rudolf und Ella und Onkel Jup. Wir waren alle sehr vergnügt und es wurde nicht wenig getrunken. Am nächsten Morgen gingen wir alle etwas verkatert aber doch in Stimmung um 8 Uhr in die Klosterkirche, weil es im Dom wegen baulicher Veränderungen zu kalt war. Die Großmutter war schon früher zur „Kirje“ gegangen. Dann machten Carl und ich einen langen Spaziergang zum Wehr der Eder unten im Tal. Alles in Eis gehüllt und mitten in den Wülsten und Blöcken ein eingefrorener Kahn. Unter dem dicken Eis rauschte und brodelte die Eder. Carl zeigte mir viele Stellen, wo sie als Jungens gefischt, bei der Ernte geholfen oder Pferde in die Schwemme geritten hatten. In der Ferne lag der „ Eiertanz“, einfach flaches Land. Darauf besuchten wir den Onkel Carl Lederle, der so spät geheiratet hat und bei dem auch der Onkel Jup wohnt. Carl führte mich von hinten her durch den großen Kuh- und Pferdestall ins Haus. Es waren wohl 12 – 15 Pferde da. Die Baulichkeiten waren in keinem guten Zustand. Sie wollen die Ökonomie verkaufen.

 

Es roch nach Kühen und kleinen Kindern, aber die Tante und der Onkel waren sehr nett. Onkel Julius hatte vom Abend vorher einen schlimmen Kater. Sagt immer, er äß und tränk` nichts, und tut's mittlerweile doch. Am Nachmittag hat er auf seinem Harmonium „ Nun sattle mir mein Pferdchen“ gespielt und ganz weltverloren aber kräftig dabei gesungen. Er spielt alles auswendig, kann aber mit seinen kleinen dicken Händchen nicht mal eine Oktav fassen. Er sprach noch viel von der Hochzeit und unserem Gesangverein. Seine Studentenbude ist ganz witzig.- Carl mußte leider wegen geschäftlicher Sachen schon um 7 Uhr abfahren Wir anderen schlossen uns Onkel Edmund an am nächsten Morgen. In Cassel machten Ella und ich Einkäufe.

 

Dann ging das ruhige Leben in Hersfeld weiter. Wir machten jeden Sonntag einen weiten Spaziergang in die Berge. Um 7 Uhr, wenn es noch ganz dunkel war, gingen wir beiden schon zur Messe in dem ärmlichen Diasporakirchlein. Dann zogen wir hinaus in die Berge bis zum Mittag und Melas sprang neben uns lustig durch den dicken Schnee.

 

Als ich einmal in der Woche allein auf dem kleinen Teich im Kurgarten Schlittschuh laufen übte, fiel ich lang hin und kroch mit großer Mühe ans Ufer. Eine langweilige Sehnenzerrung hatte zur Folge, daß ich eine Zeitlang nicht ordentlich laufen konnte. Es kam der Dr. Strauß, den ich im Verdacht hatte, daß er Jude sei und der mir darum, und weil er der erste fremde Arzt war, mit dem ich in nähere Berührung kam, ganz entsetzlich war. Er stellte sich aber nachher als sehr angenehm und harmlos heraus. Carl saß nun getraulich bei mir, wenn er sonntags kam und brachte mir Bücher und eine schöne Handarbeit. Mein Besuch in Fulda, das ich doch unbedingt sehen mußte, wurde durch das steife Bein unangenehm verzögert und verkürzt.

 

Endlich in den letzten Tagen meines Aufenthaltes kamen Ella und ich nach Fulda und zwar unangemeldet. Wir gingen zuerst zu Carls Büro. Dort war er nicht. Aber wir erfuhren, daß er seit frühem Morgen in Hilders in der Rhön sei und erst um drei zurückkäme. Das war die erste Enttäuschung. Wir machten Besuch bei Kölffels im Schloß und wurden zum Nachmittagskaffee eingeladen. Im Kurfürsten speisten wir, besuchten den Dom, plauderten herum, kauften Flieder für Kölffels , den wir beide sehr vornehm fanden und Veilchen für uns und trennten uns dann. Ella ging zum Zahnarzt und ich zur Bahn. Zwischen lauter Bauern kam Carl durch die Sperre und stapfte in Transtiefeln ahnungslos daher. Ich stürzte auf ihn zu und er erschrak sich ganz gehörig.

 

Dann musste er schnell essen im Schloss und sofort zum Büro. Das war die zweite Enttäuschung. Ella und ich langweilten uns unterdessen bis dunkel werden bei Kölffels herum. Man zeigte uns die große Wohnung mit den hohen Decken u. Fräulein Kölffels Aussteuer. Am liebsten hätte ich still am Fenster gesessen und in den Schlosspark geschaut, wo mit Schlitten und Schlittschuhen gelaufen wurde, da Carl ja doch nicht da war. Endlich konnten wir gehen und Carl abholen. Wir trafen vor dem Kurfürsten Onkel Edmund und zuletzt auf den viel beschäftigten Rechtsanwalt. Nach einer gemütlichen Abendsitzung wurde besprochen, ob wir noch länger vielleicht sogar die Nacht bleiben sollten. Ella konnte das aber nicht vertragen und wir verließen Fulda schon um 9 Uhr. Das war die dritte Enttäuschung. Meine Träume flossen in das schöne Polster der zweiten Klasse; denn ich dachte, Carl fürs erste nicht wieder zu sehen. Mit Energie und Schlauheit aber haben wir bei Mutter und Vater doch noch einen verlängerten Urlaub durchgesetzt. Bei einer Flasche Sekt wurde der letzte Abend in Hersfeld und Carls Geburtstag im Voraus gefeiert. Der in die Länge gezogene Abschied aber wurde zum Schluss doppelt schwer. Auf der Heimreise habe ich nicht durch`s Fenster geschaut, weil ich die Berge nicht mehr sehen mochte, in denen wir soviel Freude gehabt hatten.

 

Doch man gewöhnt sich an Vieles. Ich fügte mich auch wieder in die lange Trennung und schrieb Briefe und lauerte am Postkasten auf Carls Antworten.

 

Gründonnerstag hatte ich ihn endlich wieder. Wir hielten zusammen unsere Osterkommunion. Am Ostermorgen halfen wir die Eier verstecken für die Kleinen und Töne, die sich plötzlich auch dazu rechnete. Carl machte noch witzige Sprüchlein dazu. Am 13. April gab`s einen Abschied für lange Zeit. Ich folgte einer Einladung Tante Tonis nach Holland.

 

Sie wohnten in ihrem Sommerheim Huize Middendorp in Warmond und hatten jetzt ein Motorboot, den „Klaver Vier“. Die lange Trennung entfremdete uns etwas. Darum will ich diese Zeit nicht mehr erwähnen. Sie ist es nicht wert, und wir beiden wissen, was wir davon zu halten zu haben. Kaum war ich wieder in Münster ( 6.Juli), so kam Carl für einen Tag, und alles war wieder gut.

Impfen in einer Schule. Einige Kinder haben ihren linken Arm bereits freigemacht. San.Rat Dr. Bunsmann links in Uniform.
Impfen in einer Schule. Einige Kinder haben ihren linken Arm bereits freigemacht. San.Rat Dr. Bunsmann links in Uniform.

Kriegsjahre

Nun muss ich noch vom Krieg berichten, der jetzt ein Vierteljahr dauert. Schon tagelang vor der Kriegserklärung hörten wir abends vorm Schloss die jungen Leute patriotische Lieder singen u. Reden halten. Die Studenten u. Jungens waren aus Rand und Band. Ich hätte nie gedacht, noch einen Krieg mitmachen zu müssen, hätte ihn mir auch niemals so schrecklich vorgestellt. Die Erlebnisse häufen sich. Man müsste fortwährend schreiben, um alle Eindrücke festzuhalten. Alle Verhältnisse haben sich verschoben, wenn nicht gar umgekehrt. Am 2. August war der erste Mobilmachungstag. Welche Aufregung, als die ersten Kanonen aus den Wagenhäusern am Neuplatz gezogen wurden, die ersten Feldgrauen mit Musik und Gesang ausmarschierten, die Masse von Pferden zur Ausmusterung gebracht wurden und die Einquartierung kam. Mit Begeisterung und dem erhebenden Gefühl, etwas Großes zu erleben war man Zeuge der Mobilmachung. Heute geht es schon wie ein endloses Seufzen durch die Länder, und manch einer ist müde geworden. Not und Tod schreiten einher, und doch lebt im Volke noch der alte Mut. Nur ist er ernster geworden, und zeigt sich mehr in Taten als in Worten.

 

Carl wollte am zweiten Mobilmachungstag, einem Montag nach Münster kommen, die Züge waren aber mit Soldaten und Sommerfrischlern, die noch schnell in ihre Heimat eilten, so überfüllt, daß man nur sehr langsam weiter kam. So traf Carl auch 12 Stunden später ein. Die heiße anstrengende Reise und ein eiskaltes Bad, das er sofort nach seiner Ankunft nahm, machten, dass er sich tüchtig erkältete. Dieses und die Aufregungen von außen trugen dazu bei, Carl und mir das Zusammensein nicht zu verschönern. Aber wer darf jetzt noch genußreiche Stunden für sich verlangen?

 

In Hersfeld kam unterdes am 10. Oktober Klein-Rudi „der junge Wehrmann“ an und wurde vom Küster und der Kinderfrau aus der Taufe gehoben, da Carl und Maria, die eigentlichen Taufpaten, nicht hinreisen konnten.

 

Als Carl 10 Tage hier gewesen war, musste er wieder abreisen. Wir werden uns erst Weihnachten wiedersehen.

 

Von Carl Schäfer kann ich gute Nachrichten geben. Heute kam eine Karte an, die er selbst im Lazarettzug geschrieben hatte. Er hat Schüsse in den Beinen und der Schulter und wird nach Hannover gebracht. Von welcher Sorgenlast wir befreit wurden, davon zeugen Jubelrufe und Indianertänze, die Pia, Töne und ich aufführten. In Gedanken hatte ihn ein jeder schon in Gefangenschaft, bei grausamen Schotten und Türkos oder in der alten Moersleder Kirche elend sterben gesehen. Zu tausenden haben dort die Verwundeten gelegen, Freund und Feind durcheinander direkt hinter der Front. Carl ist getroffen worden, als er Albert, der einen Kopfschuss erlitten hatte, verbinden wollte. Albert hat noch gesagt: „Laß nur, es ist nicht nötig!“ und Carl darauf: „ Ich will es doch lieber tun“, und ist dann bei seinem Bruder niedergekniet. Da ist Albert das zweite Mal in den Kopf geschossen worden, und Carl bekam seine Verwundungen. Albert ist gestorben und Carl fortgetragen worden. Bis dahin hat der Jäger Meiners, der uns die Nachricht überbrachte, die Vorgänge beobachten können. Dann wurde auch er verwundet und ohnmächtig weggeschleppt.

 

Ich freue mich, daß ich dem traurigen Kriegsbild noch einen versöhnenden Abschluß habe geben können. Albert hat jetzt nichts mehr zu leiden und hat den schönsten Mannestod gehabt, den man sich denken kann. Carl ist außer Gefahr und wird bald nach Münster geholt.

 

Noch wenige Tage, dann hat Carl Namenstag. Ich überreiche ihm dieses Büchlein mit der Hoffnung, daß noch viel Schönes und Herzerhebendes auf seine Seiten geschrieben werden mögen.

17. November 1915

Im Stadtbad
Im Stadtbad

Dr. Jutta Schlia-Zimmermann:

Oma war schon in jungen Jahren eine begeisterte Schwimmerin, überhaupt auch später noch sehr sportlich. Ob sie auf diesem Foto abgebildet ist, weiß ich nicht genau, evtl. im Wasser die 6. von rechts.

Carl Schäfer ist vom 6. November an ein Vierteljahr bei uns. Weihnachten sind wir alle zusammen. Carl fährt nach Neujahr nach Fulda.

5. Febr. Eintritt ins Rekrutendepot des 58. Feld-Art.Rgt.

10. Febr. Sonntags sind Mutter und ich in Minden (wohin Carl zum Militärdienst eingezogen wurde )

 5. März Doktorexamen in Erlangen. Darauf Besuch in Münster. Ostern wieder Urlaub.

29. Mai Silberne Hochzeit. Alle Zusammen, nur Onkel Heinrich im Feld.

Pfingsten mit Vater in Minden

Anfang Juli Carls letzter Urlaub

17. Juli nach Leteln

21.,22. Juli Mutter und ich in Leteln

3. August abends 7 Uhr Abfahrt von Minden aus ins Feld an einem Dienstag.

4. Aug. 8 Uhr morgens in Aachen

5. Aug. 3 Uhr morgens in Nayon

Dr. Jutta Schlia-Zimmermann:

Das Bild zeigt die Verlobung der Schwester Pia mit dem Jurist Carl Schaefer. Hier ist die Familie Bunsmann versammelt, Eltern und 4 Töchter sowie der einzige Sohn.

 

In der oberen Reihe von links die Geschwister Bunsmann Lilli, Franz, Berti, Verlobter Carl, Omas jüngste Schwester Töne, weitere 2 Paare, die mir unbekannt sind. Unten von links Vater Heinrich Bunsmann, Onkel Ebert, Pia mit Verlobtem Carl Schaefer, Mutter Sophie Bunsmann.

Sonntag den 27.Febr. 16

Das waren goldene Urlaubstage, die wir zusammen verlebten. Am 24. fuhr Carl von der Front fort. Ich wußte nichts von seiner Ankunft, war aber zufällig doch die erste, die ihm entgegentrat. Er kam über den Hof her durch Mutters und Vaters Schlafzimmer ins Haus. Aus der Küche kommend wollte ich in meiner Schürze Seife in Mutters Schrank bringen

 

Ehe ich die Tür öffnen konnte, wird sie von außen aufgemacht, und Carl stand davor. Das gab ein frohes Wiedersehen. Carl war erst ganz still. Er sah angegriffen aus und trug an seinen Kleidern noch die Spuren des Schützengrabens. Das war an einem Dienstag. Nun wollte Carl die Hälfte seines Urlaubs in Fritzlar bei Mutter zubringen. Auf die freundliche Einladung der Marienburger hin aber fuhren auch Mutter und ich am Donnerstag, Kaisers Geburtstag, mit. In Kassel erwartete uns Onkel Edmund. Nachmittags kamen wir in Fritzlar an. Mutter stand an der Tür und weinte vor Freude. Wir gingen an diesem Abend auch noch eben zu Lederles. Freitag kam Maria von Hersfeld herüber und Carl wurde im Kreis der Familie tüchtig gefeiert. Er bekam jedoch starke Zahnschmerzen und war sehr nervös. Samstag nachmittag waren Onkel Edmund, Tante Maria, Mutter, Carl, Maria und ich in Wildungen und abends waren wir bei Nägels. Da gesellten sich auch noch Mutter und Onkel Julius zu uns. Ich verlor dabei den hübschen Schmetterling, den Carl mir aus Brüssel geschickt hatte und war unnötigerweise schon ganz in Abschiedsstimmung. Der Sonntag verlief sehr ruhig. Wir waren alle etwas müde. Carl machte mehrere Aufnahmen mit seinem neuen Apparat, den ihm Maria zu Weihnachten geschenkt hatte. Weil wir ihn aber nicht weit genug auszogen, sind sie alle schlecht geworden. Montagmorgen fuhren wir zusammen miteinander bis Kassel. Da trennten wir uns, indem Mutter I, Maria und Carl nach Hersfeld fuhren und Mutter II. und ich schon nach Münster. Ich wußte damals noch nicht, daß Carls Urlaub verlängert werden würde und war über diesen „verlorenen“ Tag sehr verstimmt. Dienstag konnte ich gegen fünf Uhr meinen Jungen wieder von der Bahn holen. Sein Zahnweh wurde aber immer schlimmer und verdichtete sich zu einer Wurzelhautentzündung. Vater schickte ihn mit einer Empfehlung zum Reservelazarett Union, wo er nun in Behandlung genommen wurde. Nun wurden die Schmerzen immer weniger und die Tage immer schöner. Carl begann, türkisch zu lernen, wozu ihm Rudolf die Bücher gegeben hatte. Einmal war er auf dem türkischen Kolleg. Er versuchte es auch, mir etwas beizubringen. Viele schöne Stunden haben wir Carls Geigenspiel zu verdanken. Schon nach wenigen Tagen konnte man nicht mehr merken, daß er solange nicht mehr gespielt hatte. Jeden Tag nach Tisch gingen wir mit Franz nach oben ins Studierzimmer. Dann quälten sich die beiden mit Xenophon, Ovid, Ceasar und der Mathematik, und ich musste mich wundern, wieviel Carl noch davon wußte. Wir haben auch weite Spaziergänge gemacht. Eines Morgens waren wir im Rüschhaus. Ein anderes Mal pilgerten wir mit Toni und Pia nach Nienberge. Als wir dort waren, öffnete der Himmel alle Schleusen und es wurde ganz dunkel. An ebendemselben Herdfeuer, das damals unsere erste Liebe sah, saßen wir wieder Hand in Hand und blickten in die lodernden Flammen. Ein heißer Punsch machte uns auch bald wieder warm und frisch für den Nachhauseweg, zumal der Regen aufgehört hatte.

 

Am 18. waren wir in Hiltrup. Wir machten Aufnahmen und schossen im Garten mit der dort im Hause gefundenen Pistole. Zweimal waren wir im Kino. Das erste Mal wurde Parzival, besser eine Parodie auf Parzival gegeben. Wenn Kundery sich verwandelte, so ging das immer ganz besonders schnell und patent. Als sie wieder einmal aus einer Hexe zu einer schönen Ritterfrau wurde, pfiff Carl dabei ganz laut durch die Zähne, sodass alles lachen mußte. Hernach waren wir noch beim Dämmerschoppen des ARV im Fürstenhof. Zu einem gemütlichen Budenzauber hat Nanna uns mal eingeladen. Bei Gesang und Gitarrenklang verlebten wir da einen netten Abend. Im übrigen waren wir sehr solide, was in der ernsten Kriegszeit und bei Carls angegriffenen Nerven das Angebrachteste war. Er brachte auch unsere lange nicht mehr benutzte Dunkelkammer wieder zu Ehren und entwickelte da mit meiner Assistenz und unter beiderseitigem angenehmen Geplauder seine Filme. Die größtenteils sehr gelungenen Aufnahmen werden unsere Erinnerung an diese Urlaubszeit immer wieder auffrischen. Nun ist Carl seit Donnerstag, d.24.II. in Itzehoe, beim Ersatztruppenteil. Es hieß erst, er bekäme wegen seiner Zähne vielleicht noch einmal ein bis zwei Wochen Urlaub; aber ich habe bis jetzt noch nichts von ihm gehört und gesehen. Hoffentlich haben sie ihn nicht schon wieder an die Front geschickt. Das Regiment hat bei der Erstürmung Gieseler Höhe, die sie zum Teil jetzt wieder besitzen, und bei den darauf folgenden Gegenangriffen gewiß wieder Verluste gehabt. Gott schütze mir meinen lieben, lieben Carl und mache diesem grausigen Krieg bald ein Ende! Am 10. Febr. feierten wir Carls Geburtstag, den zweiunddreißigsten. Wir sind jetzt vier Jahre verlobt und haben uns jeden Tag mehr lieb.

27. März 1916

Carl hat wirklich noch einmal Urlaub gehabt und verbrachte vierzehn Tage in unserm glücklichen Familienkreise. Nun ist er seit dem 23. wieder in Itzehoe. Seine Nerven sind wieder ruhig und er sah blühend und frisch aus. Er hat unseren ganzen Weinstock schön beschnitten und aufgebunden und Franz jeden Nachmittag bei den Arbeiten, besonders beim Ovid und Caesar und in der Mathematik geholfen. Wir haben auch wieder mal photographiert. Viele Stunden mußte der arme Junge beim Zahnarzt zu bringen. Auf der Schulstraße fanden wir eine Wohnung für Mutter, in die Maria und ich heute und gestern den Umzug haben bewerkstelligen lassen. Möge das neue Heim viel Glück und Freude beherbergen!

 

Zum Schluß muß ich noch die witzige Geschichte mit der Katze, die eigentlich ein Mensch war, erwähnen. Wie haben sich Carl und Töne da erschrocken! Pia und ich sahen dem Lustspiel vom Bügelzimmerfenster aus zu. Carl meinte es fauchte da eine alte, dicke Katzenmutter unter den Dachpfannen hervor. Als das gräßliche Tier nun gar anfing, mit Kalkstückchen nach Töne zu werfen, wichet Ihr beide ehrfurchtsvoll zurück und Töne rief: „ Holt Fleisch für die Jungen!“ Beherzt stieg sie dann mit einem kostbaren Stückchen Rauchfleisch, aufgespießt an einem Stock, die Leiter wieder hinauf und entdeckte, daß die Katze „ aussehe wie ein Mensch und gewiss wohl 50 Junge hätte.“

 

Nach wenigen Augenblicken sahen wir, wie auf Jenckhoffs Hof die vermeintliche Katzenmutter mit einem vom Boden geholten Bund Stroh und sehr befriedigtem und verschmitztem Lächeln einherhüpfte. Es war ein Lehrling von einem benachbarten Metzgermeister. Wir haben sehr gelacht.

 

Heute ist Fritz wahrscheinlich wieder zur Front gekommen. Ich habe ein Gefühl, als wenn in diesem Sommer der Krieg aufhören müßte.

22. Mai 1916

Carl hat wieder Urlaub gehabt. Er kam ganz plötzlich vom 4. Mai nachmittags, als ich gerade im Garten saß und einen Brief an ihn schrieb. Am nächsten Tag, einem Freitag, fuhr er nach Fritzlar. Sonntag traf ein Telegramm vom Regiment in Itzehoe ein, das ihn sofort zurück rief. Ich dachte, er müsste jetzt wieder ausrücken. Es war aber nur eine Besichtigung, und er erhielt neu Urlaub und überraschte mich zum zweiten Male am 11. Mai morgens um halb sieben. In der Nacht war er angekommen. Wir haben zusammen „Sophia“ gefeiert, am Sonntag einen Ausflug ins Stevertal gemacht. Morgens haben wir schöne Spaziergänge gemacht. Einmal waren wir bei Möcklinghoffs auf Coerde, ein andermal in der Gasselstiege. Carl war auch in Hamm beim Oberlandgericht. Man meint allgemein, daß es im Herbst Frieden gibt.

28. August 1916

Hochzeit Pia Bunsmann (jüngere Schwester von Berti) mit Karl Schaefer Hier sieht man auf der Treppe, unten beginnend, Omas Vater, Oma, ihren Verlobter Carl Schulte-W.,
Hochzeit Pia Bunsmann (jüngere Schwester von Berti) mit Karl Schaefer Hier sieht man auf der Treppe, unten beginnend, Omas Vater, Oma, ihren Verlobter Carl Schulte-W.,

Am 22. August, also vorigen Dienstag haben Pia und Carl Kriegstrauung gehalten. Ich bin froh, daß es vorüber ist; denn ich hatte Mühe, mir vor den Leuten nichts anmerken zu lassen. Mutter, Vater und die Kleinen waren bis wenige Tage vor der Hochzeit auf Neu-Zarrantin bei Fehlandts und kamen alle blühend und gesund aus dem gesegneten Mecklenburg wieder. Derweil hatten Pia und ich das ganze Hauswesen in Ordnung gebracht, geputzt, Gardinen aufgehängt, gebohnert, lackiert u.s.w. Es war eine angenehm stille Zeit der Arbeit. Wir mussten auch schon Allerlei einkaufen, was heutzutage keine Kleinigkeit ist, und Pia machte Anproben bei den Wäsche- und Kleidergeschäften. Vor den Mecklenburgern kam noch unsere Töne aus Holland zurück, braungebrannt und kugelrund und erzählte uns, wie wenig deutschfreundlich die Holländer seien und daß man mit Deutschlands baldiger Erschöpfung rechne. Am Donnerstag war dann die ganze Familie wieder um den Abendtisch versammelt. Nun wurden die Hochzeitsvorbereitungen immer hitziger. Pellengahrs hatten uns ein Zimmer mit zwei Betten zur Verfügung gestellt. Als ich gerade in Metternichs Wohnung, das uns von Frau Gräfin überlassene Fremdenzimmer am Freitag fertig gerichtet hatte, stand plötzlich mein Carl aus Itzehoe hinter mir. Da hatten wir noch eine Hilfe für die Festtagsvorbereitungen. Am Samstag stellten wir eine Hobelbank zusammen, worin unter anderem folgende Verse vorkommen:

Ist das nicht der Bräutigam ?

Ist das nicht ein frommes Lamm ?

Ist das nicht die Schwiegermutter ? ( auf dem Sofa)

Ist das nicht ein Pfündchen Butter (von einer Gloriole umgeben)

Ist das nicht der Großpapa?

Ist das viele Geld noch da?

Ist das Lili nicht, die Lange?

Ist das nicht Franz auf einem Gange?

Liegt das Paar nicht auf dem Magen? (am Strand)

Ist das Nest nicht Boltenhagen?

 

Dann verfasste Carl folgende urdeutsche Speisekarte

Fleischbrühe statt Bouillon in Tassen

Gepilztes (nicht verfilztes!) Hahnenklein statt Ragout von Hähnchen mit Champignons

Steinbutt mit Buttertunke nicht Sauce

Rehbraten mit Gemüsen und eingemachten Früchten

Eis, Früchte, Käse, Kaffee

 

Zum Hahnenklein hatten unser Haushahn und fünf Hähnchen ihr Leben lassen müssen.

 

Der Rehbock wollte sich erst nirgends auftreiben lassen, und wir waren sehr in Verlegenheit. Schließlich mussten Vater, Carl, Franz und ich uns noch am Sonntag aufmachen und einen aus Ostbevern von einem Bauern holen, der bei Vater im Lazarett gelegen hatte. Es kam uns ganz alttestamentlich vor, wie wir da mit dem schweren Bock im Rucksack über die Heide zogen. Wir haben ihn glücklich vor hungrigen Späheraugen nach Hause gebracht. Der Steinbutt verwandelte sich noch am selben Tage, da Sturm gewesen war, in Hecht. Ich glaube , dass mancher auf der Hochzeit sich seit langem mal wieder satt gegessen hat. Dem Personal konnte man die Freude recht ansehen. Als wir etwas durchregnet aus Ostbevern wiederkommen, war Paul aus Gera eingetroffen.

 

Am Montag kam Mia und direkt von der Somme aus den heißen Kämpfen auch Fritz.

 

Am Dienstag war erst gemütliche Kaffeetafel im Kinderzimmer. Ich habe allerdings von Gemütlichkeit nicht viel gemerkt, den Tisch im Esszimmer gedeckt, Anweisungen gegeben u.s.w. Pia hatte ein braunes

Seidenjackenkleid an im Biedermeierstil und einen Florentiner Hut mit Rosen. Mein Blauseidenes hatte ich selbst gemacht. Ich freute mich, daß es Carl gefiel. Außer Großpapa waren alle Feldgrau. Die Trauung fand um 11Uhr in der Kreuzkirche, der derzeitigen Garnisonskirche, statt und wurde vollzogen vom Divisionspfarrer Francken. Die Orgel brauste, als wir einzogen, zuerst Pia und Carl, vorm Großpapa und Mia, Vater u. Mutter, mein Carl und ich, Grete Vogelsang und Fritz und Töne und Paul. Ich musste furchtbar lachen. Die Ansprache war sehr ernst und schön, die Sonne schien durch die bunten Scheiben auf die Blumen und Teppiche und die Neugierigen im Schiff d. Kirche. Der Geistliche war auch zum Essen geladen. Nachdem wir wieder nach Haus gefahren waren, gratulierten wir dem Brautpaar u. ließen uns bei einem Gläschen Morgenwein und Gebäck im besten Zimmer nieder. Dann kam auch Tante Änne, die eigentlich nicht eingeladen, aber doch sehr willkommen war. Um ein Uhr begann die Tafel. Vater begrüßte kurz die Gäste. Dann antwortete Francken und hielt sich empfohlen für eine zweite Kriegstrauung. Als schließlich auch noch Großpapa in einer sehr guten, witzigen Rede auf Carl und mich anspielte, kamen mir doch etwas die Tränen in die Augen. Trotzdem war es sehr fidel bei uns Unterhause. Franz und Lili hatten bald einen kleinen Schwips und verzapften viel Blödsinn. Mein Carl las Telegramme vor und tat den ganzen Tag sein Möglichstes im Unterhalten der Gäste.

 

Beim Eis stand Pia auf, um sich umzuziehen. Ich half ihr dabei, wie ich ihr auch am Morgen das Myrtenkränzchen ins Haar gesteckt hatte.  Da traf ich sie nun das letzte Mal als Jungfrau. Selbstverständlich durften bei diesem Anlaß die Tränen nicht fehlen. Mia, Grethe, Pia und ich hatten denn auch bald ganz verheulte Gesichter. Es war aber doch zum Lachen.

3. Sept. 1916

Als das junge Paar und der Geistliche fort waren, brachten wir Großpapa für ein Stündchen zu Bett und nahmen den Kaffee. Carl und ich saßen sehr gemütlich auf der Balustrade im Wohnzimmer. In das geöffnete Fenster hatten wir einen Blumenkorb gestellt. Die Sonne schien nach einem Regenschauer prächtig auf den blank gewaschenen Neuplatz. Wir verließen unser Plätzchen auch nicht, als ein Teil der Gesellschaft einen Gang um den Schloßgarten machte. Am Spätnachmittag sah ich im besten Zimmer Vater und Tante Änne in je einem Sessel friedlich schlummern. Paul und Töne machten dumme Witze mit einem kleinen Klapperstorch, der in Pauls Blumenspende gesteckt hatte, und den Vater heraus genommen hatte. Dann wurde der Tagesbericht vorgelesen, und so warf doch immer wieder der Krieg seine Schatten auf die Feier. Zum Abend erschien auch der erfrischte Großpapa wieder. Sonst schien es mir, als wenn wir alle etwas müde wären. Da es im Garten zu nass war, hatten Franz und Carl nach dem Abendbrot in den Zimmern eine italienische Nacht veranstaltet. Wir beiden spielten einige Stücke, die Gitarren erklangen und die Sitzung bei der Bowle war recht idyllisch. Unter großem Beifall stieg unsere Hobelbank. Um zwölf Uhr brachten wir Grete nach Haus und gingen dann alle zu Bett. Ich war froh, dass der Tag zu Ende war und ganz heiser vom Zigarettenrauchen zu Carls Entsetzen; denn er liebt das nicht an mir. Ich will es mir auch abgewöhnen.

 

Mit Mia, meiner Schlafgenossin für die nächsten zehn Tage tat ich nun einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen musste Fritz, der nur einige Tage Urlaub hatte, schon wieder fort. Das bedauerten wohl am meisten Lili und Franz. Erstere hatte in ihm einen verständnisvollen Freund gefunden. Sie will nach dem Krieg ihn nach Brasilien begleiten. – Nachmittags machten wir ohne Mutter, die sich nicht wohl fühlte, einen Ausflug nach Handorf. Der ziemlich fade ausfiel. Ich tat als Mutter der Familie alles Mögliche, sah aber selber ein, dass wir alle müde waren. Am nächsten Morgen fuhr auch Paul wieder fort nach Gera, wo er Assistenzarzt ist. Der Anblick der Werse hat uns Lust zum Rudern gemacht, und so zogen Carl, Mia, Franz und ich Donnerstag um 3 Uhr zum Bootshaus am Kanal. Es wurden allerlei alte Erinnerungen an unser erstes Verlobungsjahr wach, als wir uns den bekannten Arbeiten des Klarmachens u.s.w. hingaben. Wir nahmen die Freya. Franz ruderte als Zweiter. Als Carl den Rudereranzug angelegt hatte, konnte ich so recht sehen, wie gut er sich in seiner Militärzeit entwickelt hat. Bei einem Wäldchen vor Hiltrup machten wir Halt, breiteten am Ufer einen Zeltplan aus und vesperten und ruhten. Es war ein schöner Nachmittag. Am Abend hatten wir eine schöne Sitzung mit Lampionbeleuchtung im Garten. Ich trug das weiße Kleid mit den roten Punkten, das Carl so gern hat.

 

Am nächsten Tag waren wir wieder um dieselbe Zeit auf dem Kanal. Dieses Mal sind wir noch ein Stück über Hiltrup hinausgerudert. Auch ich habe den Rollsitz bestiegen und unter Carls Kommando 6 km darauf gearbeitet; denn Arbeit war es sicher für mich Anfänger; aber schön war es doch. Samstag haben wir gebeichtet und Sonntag die hl. Kommunion empfangen. Den Sonntagmorgen brachten wir im Garten unter den Birnbäumen zu. Im Laufe des Tages waren wir auch im Schlossgarten und hatten dort lange Gespräche über das Bildungsideal und die Schule. Manchmal war ich anderer Meinung; aber meist muss ich mich später doch zu Carls Ansicht bekehren.

 

Der nächste Morgen brachte wieder den Abschied. Dieses Mal fiel er auch Carl recht schwer. Wann werden wir uns wiedersehen in dieser bösen, bösen Zeit? Nun hat auch Rumänien den Krieg erklärt. Morgenabend kommen Pia u. Carl aus Boltenhagen wieder.

 

Ich habe ihnen oben unser Zimmer gerichtet und meine beiden  schönen Daunendecken auf ihre Betten gezogen, worin mein Carl oft geschlafen hat  und habe dieses alles im Bett zu nachtschlafender  Zeit geschrieben. Sonst wird man zu viel gestört.

 

Ich hoffe immer auf einen baldigen Frieden.

 

Die folgenden Dichterworte hat Carl mir im Herbst 1918 im Felde aus der Zeitung geschnitten und geschickt:

Die Schöpfung kennt nichts Edleres als zwei freiwillig und unauflöslich zusammengeschlungene Hände, zwei freiwillig eins gewordene Herzen und Leben. (Herder)

 

Erstaunlich ist, wie ein Mann allmählich nur noch Augen für die geistige Schönheit seiner Frau hat, während er, wenn ihr die Güte des Herzens fehlt, für körperliche Reize, die ihn sonst entzückten, vollkommen gleichgültig wird. (Gutzkow)

 

Das stille häusliche Glück ist darum das edelste, weil wir es ununterbrochen genießen können: geräuschvolles Vergnügen ist nur ein fremder Gast, der uns mit Höflichkeit überschüttet, aber kein bleibender Hausfreund. (Jean Paul)

 

Der ist der Glücklichste, er sei ein König oder ein Geringer, dem im eigenen Hause Wohl bereitet ist. (Goethe)                                                                              

Doncourt 19.I.18

Mein Lieb so fern......

 

Mein Lieb so fern, mein Herz so schwer

In Sehnsuchtsschmerz gerissen.

Die Welt so öde und so leer

Seit ich mein Lieb muß missen.

Mein Lieb so fern...

 

Nicht schau ich mehr Dein lieb Gesicht

Nicht Deine Äugelein

Nicht Deiner Seele strahlend Licht

So lockend, warm und rein.

Mein Lieb so fern....

 

Ach nimmer schmiegst Du, süßes Weib

Dich eng an meine Brust.

Es legt sich nicht um Deinen Leib

Mein Arm in selger Lust.

Mein Lieb so fern....

 

Zu heißen Küssen baut kein Mund

Sich meinen Lippen dar.

Vergebens wünsche ich zur Stund

Zu streichelen Dein Haar.

Mein Lieb so fern....

 

So sitz ich einsam und allein,

Möchte schier vor Schmerz vergehn.

Wann endet meiner Sehnsucht Pein-

Wann gibt`s ein Wiedersehn?

Mein Lieb so fern...

 

Still kommt die Nacht, die liebe Nacht

Ich sehn mich so nach Ruh`

In dunkler Nacht ein Traum mir lacht,

Und in dem Traum nahst Du---

Mein Lieb so fern.....so fern....

Aus dem 1. Tagebuch - Teil 2

Münster, den 10. Nov. 1918 - Sonntag

Berti am Springbrunnen
Berti am Springbrunnen

Der Krieg geht dem Ende zu. An der Westfront ist es schon ruhig, und jeder Tag kann den Waffenstillstand bringen. An unserem alten Rathaus weht die rote Fahne. In der Nacht vom 8. auf den 9. November sind die Umstürzler auch noch hierher gekommen.

 

Ich hätte nicht gedacht, dass ihnen auch hier die Vergewaltigung des Generalkommandos gelungen wäre. Zu seinem Schutze waren aus dem Felde Artillerien, Maschinengewehre und viele Jäger herübergekommen. Donnerstagabend waren wir auf der Wilhelmstraße, wo ein lustiges Lagerleben herrschte. Zwei Panzerautos waren auch zu sehen. Wir gingen mit dem Gefühl nach Hause, daß in der ruhigen Stadt Münster und bei solch guten Truppen wie den neuangekommenen nie dasselbe wie in Kiel, Bremen, Hannover und Köln passieren könnte! Der Freitag verlief ziemlich ruhig, nur sah man häufig inmitten von Menschentrüppchen Matrosen stehen und reden. Überall standen Wachen in Stahlhelmen und Maschinengewehre und schritten Patrouillen. Am Abend war die Stadt wieder wie in Friedenszeiten erleuchtet. Sogar einige Schaufenster erstrahlten, und in gehobener und beruhigter Stimmung gingen wir einmal unterm Bogen herauf und herunter. Ein alter Bogenbummel, an dem auch Offiziere teilnahmen hatte sich entwickelt. Die Matrosen waren verschwunden. Sehr ruhig ging man zu Bett.

 

Als Pia und ich etwa eine Stunde geschlafen hatten, klopften Töne und Lilli an die Tür. Sie meinten, Verdächtiges vom Steintor her gehört zu haben. Wir lauschten angestrengt in die sternenklare Nacht hinaus. Man hörte von weither Singen und Rufen; aber es erstarb immer wieder im Schweigen der Nacht. Es konnten neuankommende Truppen sein. Töne und Lilli hatten jedoch gesehen, wie um 12 ¼ etwa ein Trupp Landmatrosen oder Ähnliches über die Neuplatzstr. In schnellem Schritt zum Tore ging. Das Singen und Rufen wurde stärker. Eine Salve ertönte. Wir mochten noch nicht an eine Überrumpelung glauben. Bald konnte man aber nicht mehr daran zweifeln. Gegen zwei Uhr kamen Soldatenhaufen mit 2 Lichtern quer über den Neuplatz. Die Lichter wurden von Matrosen getragen. Andere Einzelheiten konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen. Es mochten mehrere Tausend Soldaten sein. Sie gingen unter Singen und Johlen zum Gerichtsgefängnis. Schauerlich schallte der Lärm aus dem Hof, der zwischen Gericht und Gefängnis liegt. Man hörte laute Stöße gegen schwere Türen, dann Hurra- und Hochrufe. Jedesmal, wenn Gefangene befreit waren, sang man: „Schon wieder eine Seele gerettet“.

 

Während dieser Zug mit den Befreiten über die Mühlenstraße fortzog, kam ein anderer aus der Stadt und begab sich zum Neutor. Wie wir jetzt erfahren haben, sind außer den Dreizehnern alle Soldaten, auch die Neuangekommenen gleich übergetreten. Die Dreizehner haben sich neutral verhalten. Die ganze Nacht war Lärm auf dem Neuplatz.

 

Wir schliefen erst am Morgen ein, nachdem wir unten Bescheid gesagt hatten von den neuen Dingen. Alle hatten wir vor Schrecken Magenschmerzen bekommen.

 

Gestern war es recht unruhig in der Stadt. Den Offizieren wurden Achselstücke und Degen fortgenommen. Jedem Soldaten wurden die Kokarden abgenommen, erst nur die preußische, dann aber auch die deutsche. Einige ältere Offiziere sollen geweint haben bei dieser schmachvollen Behandlung.

 

Das Generalkommando hatte sich schon in der Nacht übergeben. Verschiedene mißbeliebte Offiziere, denen man nachgespürt hatte, waren geflohen. Es sollen auch Rohheiten vorgekommen sein. Wir selbst haben keine bemerkt sondern nur gesehen, daß die Gemeinen mit wahrer Wonne und wenig Anstand den Offizieren die Abzeichen fortnahmen. Die Mannschaften trugen vielfach statt des schwarzweißen Bandes rote Abzeichen oder einfache rote Lappen an der Uniform. Vielfach wurden die Achselstücke abgeschnitten. Gassenkinder spielten mit Epauletten. Tasche, Brink und Ribbergasse spieen ihre besten Vertreter aus. Mädchen mit offenen Haaren und roten Schleifen trieben sich, Schnapsflaschen in der Hand, mit den Soldaten herum. Sie umarmten und küßten sich fortwährend. Es war sehr widerlich und hat gewiß manchem Unentschiedenem die Augen geöffnet. Die Bürgerschaft verhielt sich ablehnend und ruhig. Auf dem Neuplatz waren mehrere Versammlungen. Die Redner, gemeine Soldaten, Matrosen, Zivilisten standen auf einem aus einer Wirtschaft herbeigeholten Tisch inmitten der hauptsächlich aus Soldaten bestehenden Volksmassen. Hinter ihnen wurde eine rote Fahne geschwenkt. Der Soldaten- und Arbeiterrat fuhr in einem Auto durch die Stadt und wurde bald hier, bald da mit Hurrah begrüßt. Die Menge war in einem Taumel, und doch herrschte im großen Ganzen Ordnung. Die Zeitungen stehen unter strenger Zensur. Fortwährend fuhren Soldaten in die Heimat. Man fühlt sich wieder sicherer. Ob Plünderungen vorgekommen sind, weiß ich noch nicht. Es schwirren viele Gerüchte durch die Stadt.

 

Am heutigen Sonntag war um 10:00 wieder Versammlung auf dem Neuplatz. Es sprachen ein Matrose, ein Offizier vom Generalkommando und ein Unteroffizier.

 

Verschiedene Ordnungsmaßregeln wurden verlesen. Der Matrose brachte drei Hochs auf die Republik aus, die gestern in Berlin ausgerufen wurde. Der Offizier bezeichnete dieses mit Recht als verfrüht, da vorher eine Nationalversammlung stattfinden muß.

 

Die Bewegung kommt in ruhigere Bahnen. Man atmet auf. Der Plebs ist ernüchtert. Die ruhigeren Soldaten sind erlöst und finden sich wieder nach Waffengattungen zusammen unter ihren Vorgesetzten. Man sieht beide Kokarden wieder und dazu Epauletten und Degen bei den Offizieren.

 

Wann mag Carl kommen?

13. Nov. 1918

Das Kriegsende naht

Berti mit Bob
Berti mit Bob

Ich schreibe nicht mehr an Carl sondern warte nur noch auf seine Ankunft. Ebenso erwartet Pia ihren Carl. Freitag und Samstag sollen große Mengen Soldaten ankommen. Ob er wohl darunter ist?

 

Soldaten- und Arbeiterrat arbeiten in allen Verwaltungen. Heute nachmittag war wieder Versammlung im Rathaus. Davor hielten mehrere Automobile mit roten Fahnen. Es haben sich schon 2 Parteien gebildet, eine gemäßigte und eine radikale. Wer plündert, wird standrechtlich erschossen. Es scheint, als wenn sich die Königstreuen insgeheim zusammenschlössen. In Berlin wird immer noch geschossen. Wir werden uns neutral verhalten. Gott bewahre uns vorm Bürgerkrieg. Ich glaube nicht, dass in West- und Süddeutschland die Königstreuen viele Anhänger finden. Gestern hieß es, der Kronprinz sei erschossen. Wir haben uns sehr erschreckt. Das wäre doch entsetzlich. Der Kaiser soll ganz weiß geworden und vollständig gebrochen sein. Er ist bei Arnheim in der Villa seines Freundes, des Baron Meutyck.

17. Nov. 18

Waffenstillstand

Carl ist noch nicht hier, auch Carl Schäfer noch nicht. Da Metz schon heute geräumt sein muß, wird er schon in Deutschland sein. In der Gegend östlich der Maas, wo die 284er gestanden haben, ist noch bis zuletzt gegen die Amerikaner gekämpft worden. Der letzte deutsche Tagesbericht spricht noch davon. Das Regiment ist, wie Carl am 9. Nov. geschrieben hat, dafür ausgezeichnet worden. Am 11. Nov. trat der Waffenstillstand ein. Hoffentlich ist Carl in den letzten Kriegstagen gesund geblieben. Auch die Reise zur Heimat ist nicht ohne Gefahren. Das Ersatzregiment befindet sich jetzt in Bünde bei Herfort, wie wir heute erfuhren. Wahrscheinlich wird er zuerst dorthin müssen.

 

Die Rückzugsbedingungen sind grausam. Wieviele Kranke werden bei dem fluchtartigen Abzug sterben müssen. Es friert draußen seit 8 Tagen und ein scharfer Ostwind weht.

 

Der Kronprinz ist doch nicht erschossen. Als neulich bei der falschen Nachricht ein Soldat zu anderen gesagt hat, „ das hätte man nun auch gerade nicht tun sollen, gefangen nehmen konnte man ihn ja, aber totschießen-----!“ da haben andere rohe Kameraden so auf ihn geschlagen, daß er im Lazarett verbunden werden mußte. Das ist Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die wenigsten Roten benehmen sich brüderlich. Keine Partei steckt wohl so voll Egoismus wie die sozialdemokratische. Wenn ich es vermeiden kann, gehe ich nicht mehr in die Stadt. Man ärgert sich fortwährend über das anmaßende rüpelhafte Benehmen der Matrosen und Arbeiter.

20. Nov. 1918

Rückkehr der Soldaten

Soldaten, Passanten und Geschütz vor dem Rathaus - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank - Stadtarchiv)
Soldaten, Passanten und Geschütz vor dem Rathaus - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank - Stadtarchiv)

Es ist ein Uhr nachts. Ich kann nicht schlafen. All das Neue der letzten Tage macht mich so aufgeregt. Die beiden Carls sind noch nicht da, auch keine Nachricht. Doch ist das nicht verwunderlich; denn sie gehörten ja beide zu Fronttruppen; und die kommen erst zuletzt. Bis jetzt sind hauptsächlich erst die Etappenleute angelangt. Je mehr es zur Front hin geht, desto besser ist die Disziplin.

 

Gestern hatten schon manche Häuser geflaggt, weil es hieß, es kämen welche von den Regimentern an, die hier in Münster stehen. Anscheinend sind sie aber noch nicht gekommen. Auf dem Neuplatz stehen viele Kraftwagen. Mit Tannengrün und vielfach auch mit roten Fahnen geschmückt rattern sie hier in Münster ein, voll Soldaten und mit Schmutz überkrustet. Wenn doch diese rohe blutige Farbe erst von der Straße verschwände! Es war eine Wohltat, gestern abend 6 Autos zu sehen, die schwarz- weiß- rote Fähnchen angesteckt hatten. Wenn wir auch Republik werden, so bleiben wir doch Deutsche. Die größten Freunde des roten Lappens wohnen natürlich in Tasche, Brink und Ribbergasse. Auch die Römer, besonders Verwachsene, tragen ihn mit wahrer Wonne. Mit stillem Ingrimm sieht der Bürger die Autos des A. u. S. Rates durch die Straßen sausen. Sie fahren sehr schnell unter schrillem Pfeifen, haben vorn die rote Fahne und ihre Insassen können nicht anständig darin sitzen sondern stehen oder lagern auf echt ordinäre Weise in den Wagen. Am meisten verhaßt sind die Matrosen. Die Anordnungen des A.u.S. Rat sind manchmal nicht schlecht sondern praktisch; aber die entfesselten Massen lassen sich jetzt nicht mehr zu striktem Gehorsam bringen.

 

Bei den Gefangenen, die man hier befreit hat, befanden sich auch ein dreimaliger Mörder und ein Leutnant, der wegen Soldatenschinderei zu Gefängnis verurteilt war. Aus den Lazarett– Untersuchungsgefängnissen sind Geisteskranke entwichen, die nun womöglich sich und andere unglücklich machen. Es sind große Zentrumsversammlungen gewesen, um die Wahlen zur Nationalversammlung vor zu bereiten. Nun müssen wir alle wählen, ob wir es schön finden oder nicht. Die Katholiken erwarten nichts Gutes  von den neuen Gewalthabern. Auch die Protestanten, die ja unter der alten Regierung sehr bevorzugt waren, fürchten für ihre Glaubensfreiheit. Gestern stand in den Berliner Blättern, dass im Berliner  Dom ein besser gekleideter Mann den Hofprediger  Dyrander beim Gottesdienst unterbrochen hat. Er ist auf eine Empore gestiegen und hat eine Ansprache gehalten mit dem Schluß: „Jesus Christus ist uns Wurst.“ Die Gläubigen haben ihn herausgeworfen, viele Frauen haben geweint und der Geistliche hat mit den Händen sein Gesicht verhüllt. Dann haben alle gesungen: Eine feste Burg u.s.w. Es klingt fast komisch, ist aber doch wohl recht ernst zu nehmen. – Es gibt jetzt keine Offiziersburschen mehr. Metternichs sind ganz unglücklich darüber.

 

Wenn es nur keinen Bürgerkrieg gibt! Ich bin ganz enttäuscht über die große Masse des deutschen Volkes. Die früher am lautesten Hurra schrieen auf Kaisers Geburtstag tragen jetzt die dicksten roten Schleifen. Man kann nur Verachtung haben für solche Menschen.

 

Ich dachte, das deutsche Volk wäre reifer und edler gewesen. Manches muss man den zermürbten und verärgerten Menschen ja zu gute halten; aber dieses ist doch unter aller Würde. Die Gefangenen, die seit einigen Tagen vielfach frei umhergehen, grüßen die deutschen Offiziere mit Anstand, während manche von unseren Soldaten sie nur widerwärtig frech anblicken. Und es ist doch unter ihnen nur die Minderzahl schlecht.

 

Die Offiziere beachten das jungenhafte Gebaren der Soldaten nicht. Sie sehen an ihnen vorbei, und man sieht deutlich auf ihren Gesichtern, wie sie Mitleid haben mit diesen armseligen ungebildeten Kreaturen. Es gibt aber auch noch sehr gute Soldaten hier in Münster, und ich hoffe sehr, dass die Frontsoldaten ihre Zahl vermehren werden. Wo es am einfachsten und knappsten hergeht, findet sich ja meist die beste Moral. – Jetzt will ich versuchen, zu schlafen. Nie hätte ich früher gedacht, dass ich mir um mein Vaterland solche Sorgen machen könnte. Jetzt wo es in schwerer Not und Schmach ist, sehe ich es ein, dass ich es glühend liebe. Der liebe Gott möge es aus diesem Elend bald herausführen.

23. Nov. 1918

Unruhen

Von beiden noch keine Nachricht. Der Rückzug läßt sich in der festgesetzten Zeit kaum bewerkstelligen. Es sind schon größere Truppenverbände in die Hände der Feinde gefallen und interniert worden. Nun haben wir Angst, daß auch die Carle nicht mehr frühzeitig aus dem feindlichen oder besetzten Gebiet herauskommen können.

 

Die Stadt hat geflaggt. Nachdem  die Etappe ihre Menschenmassen geschickt hat, kommt nun auch das Frontheer. Unzählige Autos rattern über den Neuplatz. Sie sind mit schwarz= weiß = roten Fahnen und Grün verziert, oder in den Farben der Württemberger oder Bayern. Es stehen allerlei Sprüche daran. Die Soldaten sitzen und stehen darauf mit ihren Habseligkeiten, Kisten, Tieren und Waffen. Es erinnert an einen Fastnachtszug. Die Schulen sind ausgeräumt für Soldaten und Lazarette. Das Frontheer ist durchaus nicht radikal gesinnt. An einem Auto stand: “Affentheater Direktor Kehlkopf“, an einem anderen: “Einst groß und herrlich, jetzt klein und ehrlich“, dann „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“,  „Meine Alte hat mich gern“, „Ist der Anzug schon gebügelt?“, „Jetzt gibt’s Hochzeit“, usw. An vielen steht nur: „Parole Heimat“.- Die Franzosen, Engländer und sonstige Gefangene gehen seit Tagen frei umher, besuchen Wirtschaften und Theater und machen viel Einkäufe. Sie betragen sich ziemlich bescheiden. Unsere Soldaten versuchen anscheinend, sie mit bolschewistischen (Ideen) anzustecken.

1919: Auf dem Prinzipalmarkt - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank - Stadtarchiv)
1919: Auf dem Prinzipalmarkt - Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank - Stadtarchiv)

21.12.18

Warten auf Carl und rote Fahnen

Morgen oder Übermorgen werde ich Carl nach einjähriger Trennung wiedersehen. Am 2. Januar soll die Hochzeit sein. So recht daran glauben kann ich nicht.  „Es ist zu schön, um wahr zu sein“. Zudem herrscht in allen Dingen des öffentlichen Lebens eine solche Verwirrung und Unsicherheit, daß ich die größten Zweifel habe, ob wirklich am 2. Jan. geheiratet werden kann. Man hat mit viel Widerstand und Hindernissen zu kämpfen. So werden Reisebewilligungen nur in den allerdringendsten Fällen erteilt. Ist das nun eine Hochzeit? In Ruhe auf das Fest vorbereiten kann ich mich nicht. Täglich wächst im Gegenteil die Arbeit. Ein stilles Glück, das nur auf den Augenblick wartet, wo ihm Platz gegeben wird, sich frei auszudehnen und zu blühen, das trage ich im Herzen trotz aller Unrast. Carl kann in Fritzlar noch keine Wohnung finden. Ich werde sowieso nach der Hochzeitsreise erst wieder nach Münster kommen, da meine Möbel durchaus noch nicht beisammen sind. Es fehlt an allem und jedem. Aber bei den augenblicklichen Preisen ist ein Anschaffen unmöglich. Stundenlang muß man auf Büros und Kartenausgabestellen stehen und dann noch für die Lebensmittel. Ein Töpfchen Fett, daß ich mir aus dem Ukrainer Speck von Carl ausgelassen habe, habe ich soeben für unseren künftigen Haushalt zurück gestellt. Jetzt einen Hausstand zu gründen ist eine Preisaufgabe. Wenn man sich nicht etwas Leichtsinn und Gottvertrauen anschafft, geht’s nicht.

 

Viele, die sich nach Ordnung sehnen, wünschen die Feinde herbei. Das 7. Gebot existiert nur noch bei unmodernen Leuten, die sich zudem dem Scheine der Lächerlichkeit aussetzen. Das Volksvermögen wird verschleudert. Ganze Autos wurden von Straßenbengeln zerstört. Als elende Wracks stehen sie auf Straßen und Plätzen. Soldaten verkaufen Pferde, Waffen, Munition, Lebensmittel, die dem Staate gehören, zu billigen Preisen an die Bevölkerung. Was in die Tasche und den Bruck geschleppt wurde in diesen Tagen muss ein großes Warenlager sein.

 

Es gibt auch Ausnahmen. In herrlicher Disziplin sind Dreizehner und Zweiundzwanziger eingezogen. Die schienen sogar noch vollzählig zu sein. Töne und Lilli verteilen Papierrosen, die Soldaten sich anstecken. Bei unseren Regimentern sah man keine rote Fahne. Bei den 22ern steht Max Bunsmann aus Aachen. Onkel Franz schreibt, daß es ihnen unter der Besatzung gut ginge. Ähnliches hört man aus anderen linksrheinischen Städten. Besonders die Amerikaner sind als Bringer geordneter Zustände sehr beliebt. Die Soldatenräte sind von den Feinden im besetzten Gebiet abgeschafft worden.

 

In der Zentrumsfrauenversammlung von Überwasser ist ein Gottesleugner aufgestanden (ein kleiner Soldat) und mit großem Geschrei von den Frauen herausgewiesen worden.

Dr. Jutta Schlia-Zimmermann:

Links Tochter Pia Schlia (meine Mutter), in der Mitte Oma im Alter von 76 J., rechts Sohn Dr. Heinrich Schulte- Wintrop (Oberstarzt)

26.2.19

Heirat und Wohnungssuche

Ich schenke es mir, von den Gräueln zu erzählen, welche die Spartakistenherrschaft in diesen Tagen im Rheinland und Westfalen angerichtet hat. Heute Nacht will ich nur Familiensachen berichten. Am 2. Januar ist unsere kirchliche Trauung gewesen. Sylvester war die standesamtliche. Drei Tage weilten wir in Nobiskrug  bei Handorf, dann einen Tag in Münster, einen in Paderborn mit Fritz zusammen und waren dann am 8. In Fritzlar. Etwa zwei Wochen bin ich dort noch mit Carl zusammen gewesen. Wir haben eine Wohnung am Markt gemietet. Seit sechs Wochen bin ich nun wieder in Münster, um die noch fehlende Aussteuer zu besorgen. In elf Tagen werde ich das Elternhaus verlassen. Wenn ich dann mal wiederkehre, bin ich „Besuch“. Je näher der Abschied rückt, desto schwerer wird es mir ums Herz, wenngleich es mich auch mit allen Fasern zu meinem lieben Carl zieht. Vater und Mutter, Franz, Lilli und Töne, Bob, liebes Haus und Garten, Nachbarn, Neuplatz, Münster!

Aus dem 1. Tagebuch - Teil 3 - Fritzlar, den 29.6.1919

Stille Momente

Berti
Berti

Noch einige Tage - dann sind wir ein halbes Jahr verheiratet. Soll ich einen Rückblick halten? – Vielleicht ist es besser, wenn ich noch warte. Es ist noch zu viel Wirres, Ungeklärtes da, das sich erst langsam lösen wird. Die kurze Spanne von 6 Monaten hat eine Fülle von Freuden für mich gebracht und eine Fülle von Leiden. Neue Freuden – neue Leiden.

 

Ich sitze im Rosenzimmerchen am runden Tisch, auf dem ein Strauß von herrlichen Sommerrosen blüht. Im Musikzimmer spielt Carl, und Maria begleitet ihn. Das Spiel dringt bald lauter, bald leiser zu mir herüber. Solche Momente habe ich von jeher geliebt. Sie sind trunken von wehmutsvollem Glück. So habe ich zuhause oft abends im Kinderzimmer gesessen und auf eine ferne Musik gelauscht. Man bleibt doch ganz derselbe, wenn man auch älter wird.

 

Ich will noch einige Sprüche aufschreiben, die mir in der letzten Zeit oft durch den Kopf gehen

 

„Freude ist die Mutter aller Tugenden“ (Goethe)

 

„Daran gehen so viele Ehen in die Brüche, dass einer den anderen drängen und zwingen will, zu denken und zu tun wie er selbst. Ich meine im Gegenteil, man muss den anderen in seinem Eigenen, wenn es nicht gar zu unklug ist, bestärken, damit man doch einen ganzen Menschen neben sich habe.“ (Gustav Frenssen)

 

Das kann ich noch nicht erfassen. Wenn ich doch erst so weit wäre.

 

„Verlange nichts von irgendwem,

lass jedermann sein Wesen,

du bist von irgendwelcher Fehm

zum Richter nicht erlesen.

Tu still Dein Werk und gib der Welt

Allein von Deinem Frieden

Und hab dein Sach auf nichts gestellt

Und niemanden hienieden“  (Morgenstern)

 

Ich möchte so gern geistig selbständig werden. Niemals hätte ich gedacht, dass ich noch so unfertig bin, wie ich es jetzt entdeckt habe. Zu Hause hatte ich mehr Sicherheit. Hier kommen meine Fehler alle ans Licht. Und Carl ist so gut. In mir aber ist alles Unruhe, Leidenschaft und Unordnung. Zwischen diesen ruhigen, leidenschaftslosen und abgeklärten Verwandten komme ich mir wie eine sündhafte rote Flamme vor. Ich weiß nicht, wie ich mich bessern soll und bin voll Trotz. Wenn ich mich mal müde schwimmen könnte! Meine schrecklichste Qual ist die Eifersucht. Ich begreife nicht, wie Carl so ganz frei von ihr sein kann. Ich habe sie geerbt von Vater.

Fritzlar, 9.11.19

Reimzeit

Berti
Berti

Dieses erste Gedicht hat Vater zu Carls Namenstag gemacht. Carl hat, wie folgt, darauf geantwortet, mit dem zweiten.

 

Siste, siste, dies iste

Dies vere festus est.

Jubilate et cantate

Hodie Carolus est

 

Vivas et in multos annos

Ad salutem hominum

Ut notarius, actor causae

Pro fortuna animum!

 

Uxor tua, Berta celes

Curat te, ut valeas,

Corpus animamque semper,

Magno Deo gratias

Cum amore Pater vester

 

Antwort:

Pater carissime

Carmen pulchrum, quod misisti

Per postalem nuntiumNominis ad festum mei

Magnum dedit gaudium

 

Ago tibi et Francisco

Socero amabili

Magna lexica volventi

Cordialem gratiam

 

Gratias et bono Deo

Quod in mundo misero

Carta vestra ut demonstrat

Humor nondum mortus est.

 

Salve nos parentes cari

Totam domum etiam!

Salus sint et pax coelestis

Super vos in saecula.

                                                                                           

Friedeslaria die VI Nov 1919

Fritzlar den 27.II. 20

Auf nach Fritzlar - Die neue Heimat

Für Carl allein brauche ich jetzt kein Tagebuch mehr führen. Wir erleben ja jetzt alles zusammen. Ich schreibe jetzt für unsere alten Tage und für unser Kind, das wir Anfang Juli erwarten. Vater hat den 4. Juli ausgerechnet, meinen Namenstag.

 

Wir sind glücklich. Ich bin ruhiger geworden und ganz zufrieden. Die Sehnsucht nach der schönen alten Heimat kommt zwar immer wieder, aber sie ist nicht mehr wild, sondern eher so, wie ich am Anfang dieses Buches schrieb. Die Jugendzeit ging leuchtend nieder und wird noch lange zurück leuchten. Die Erinnerung an Kindheit, Eltern, Geschwister und Heimat wird immer frisch in mir bleiben. Die Trennung von all diesem  war naturnotwendig. Langsam habe ich sie überwunden und gehe nun ganz auf im Leben mit dem geliebten Manne.

 

Aus Münster, wo wir zuletzt nach Weihnachten zehn Tage zubrachten, kommen letzthin allerlei neue Nachrichten. Auch dort tritt eins von den Geschwistern nach dem andern aus dem Kinderland hinüber ins große Leben. An Weihnachten saß in unserem Familienkreis schon der neue Schwager Dr. Hegge, ein Chemiker, oder wie ich ihn jetzt einfach nenne, der Heinz. Er ist Lillis Verlobter und paßt sehr gut in unsere Familie und unsere Anschauungen hinein. Sein Vater hat eine Kerzenfabrik in Fürstenau in Hannover. Er ist ein rechter Friese im Äußeren wie im Innern. – Kaum waren wir wieder in Fritzlar, da kommt die Nachricht von Tönes Verlobung, die natürlich auch mit Hindernissen vor sich gegangen ist. Vater traut keinem Menschen leicht aber besonders keinem, der sich mit schwiegersöhnlichen Absichten naht. Tönes Erwählter ist auch Chemiker und Heinzens Freund. Er heißt Hermann Dieckmann. Sein Vater, der Professor in Viersen war, war ein Freund von unserem Vater. Und unser Franz, der lange Nesthaken! Der hat vor einigen Tagen sein Abiturium bestanden. Am selben Tage hat Heinz sein Staatsexamen glücklich hinter sich gebracht. Das glücklich bestandene Abitur macht mir eine große Freude. Ich habe jahrelang mit Franz, um ihn anzuregen, die Schulaufgaben gemacht. Einträglich haben wir so manchen Nachmittag oben auf dem Studierzimmer hinter den Büchern gesessen. In allen Fächern konnte ich vor 2 Jahren nicht mehr mit. Aber die Hauptsache war ja auch, daß der Junge einen Freund hatte, mit dem er seine Schulsorgen besprechen konnte. Das war ich dann, und war es gern. Denn das Kind wuchs mir mehr und mehr ans Herz. Der Franz ist pessimistisch veranlagt und verliert leicht den Mut und man musste ihn immer wieder aufmuntern und Frohsinn predigen. Ich hoffe, daß er uns in nächster Zeit wieder besucht. – Nun fehlt nur noch Pia in Schleswig. Die wartet mit Mutters Assistenz auf ihr zweites Kindchen und hat gar arge Wochen mit Krankheit, Kohlen – und Mrigdenot(?)  hinter sich. Ich erwarte stündlich das Telegramm, das die glückliche Geburt des kleinen Zögerers ankündigt und freue mich, wenn ich diese Sorge vom Herzen habe und Pia wieder auf dem Damm ist.

 

Von unserer Hochzeit will ich jetzt noch etwas erzählen. Ganz so prosaisch, wie ich sie vor einigen Seiten kurz notierte, war sie nicht, wenn gleich sie auch, das habe ich selbst empfunden, stark unter den Zeitverhältnissen zu leiden hatte. Schon heute könnte eine Hochzeit mehr von dem alten Zauber bergen, weil die Zeiten etwas ruhiger geworden sind. Sie würde allerdings auch viel teurer schon wieder sein. Mein Hochzeitskleid war ein Kostüm von schwarzer Seide mit schwarzer Bluse von Seidenchiffon, durch welchen rosa Seidenbänder schimmerten. Der Kragen war aus weißen Spitzen. Die Näherin hatte nur das Ganze gar nicht nach meinem Geschmack gemacht. Ich habe zuletzt noch vieles daran verändert.

 

Bei der Anmeldung der Aufgebote hatte ich manche Widerwärtigkeiten. Carl war damals noch in Hersfeld und so war ich allein vor dem alten knittrigen Standesbeamten, der alle jungen Paare anschnauzte, als wäre Heiraten ein Verbrechen. Zuletzt gabs noch Schwierigkeiten wegen Carls Doppelnamen. Er hat sich den alten Familiennamen erst vor dem Assessorexamen wiedergeben lassen. Vater und Großvater waren nur noch einfach unter dem Namen Schulte gegangen.

Nachruf Carl Ebert
Nachruf Carl Ebert

Die Urkunden von Carls Namensänderung waren nicht zu finden. Carl meint, man hätte sie ihm damals von Erlangen, wo er seinen Doktor gemacht hat, nicht wiedergeschickt. Dort sind sie angeblich nicht auffindbar. Nun, der Standesbeamte gab schließlich zu, daß die Hochzeit stattfinden könne, wenn diese Urkunden nachgereicht würden. Sie sind bis heute noch nicht nachgereicht. Als wir glücklich zusammen waren, haben wir gar nicht mehr an die Urkunden gedacht. Zeugen bei der standesamtlichen Trauung waren Carl Schäfer und unser alter Großpapa Ebert, der jetzt wohl 85 Jahre alt sein muß.

Danach tranken wir gegenüber bei Beiderlinden ein Gläschen Wein. Neujahr und der Polterabend verliefen ziemlich ruhig. Es war nur Vielerlei in Küche und Keller zu tun, und dann mußte ich mittlerweile die Koffer packen für unsere „große“ Hochzeitsreise und die nachfolgende Fahrt nach Fritzlar. Pia stand mir lieb zur Seite. Piale packte wieder aus, was ich einpackte und entleerte eine ganze Puderdose auf Carls Hochzeitshose. In der Nacht vor der Hochzeit habe ich nicht viel geschlafen. Ich hatte die Friseuse auf ½ 7 bestellt. Sie kam aber erst viel später, und ich saß in tausend Ängsten. Knapp wurden Carl und ich fertig. Man schob uns in den Wagen mit den ominösen 4 Silberlaternen und fort gings zum Kapuzinerklösterchen, wo Pater Felix, ein Studienfreund von Vater, die Trauungsmesse las. Es war ganz still in der Kirche. Nur eine Kränzchenschwester von Mutter hat herausgekriegt, wo und wann die Trauung stattfand. Die anderen Neugierigen sind zu Tönes Gaudium zur Überwasserkirche gelaufen. Dort hat Töne sie dann gezählt und heimlich ausgelacht. Es war sehr kalt in der Klosterkirche. Geweint habe ich nicht. Dazu hatte ich zuviel geweint in den letzten traurigen Jahren unserer Verlobungszeit. Geweint habe ich nur abends beim Abschied von den lieben Eltern, besonders Vater, dem es auch schwer wurde. Pater Felix reichte uns die Hl. Kommunion und hielt hernach in seiner sauerländischen Mundart eine einfache, kernige Predigt. Es war nur alles so sonderbar, und wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätte ich gedacht es wäre ein Traum. Dann gingen wir Arm in Arm feierlich heraus und stiegen in den Wagen. Zuhause war das Portal geschmückt und mit Blumen bestreut und Piale stand im weißen Kleidchen, wie ich es mir gewünscht hatte, auf der Treppe und warf Blümchen aus ihrem Körbchen. Nach und nach kamen die Gäste. Es waren Großpapa, Mutter Schulte, Maria, Fritz, Pater Felix, Maria Vogelsang, Onkel Heinrich und Tante Änne. Im Esszimmer war die Tafel gedeckt. Carl und ich saßen mitten davor mit dem Blick in Wohn- und bestes Zimmer, wo ein Geiger und ein Klavierspieler, wie ich mir sehr gewünscht hatte, uns aufspielten. Ich erinnere mich, dass zuerst der Hochzeitsmarsch aus dem Sommernachtstraum gespielt wurde. Was gegessen wurde, kann ich nicht mehr sagen. Wohl weiß ich noch, daß auch große Bohnen, unser münsterländisches Nationalgericht nicht dabei fehlten. Leider war die bei Onkel Otto in Werl bestellte Weinsendung auf der Bahn gestohlen worden. Vater aber half bereitwillig mit seinem Vorrat aus und einiges mußte noch schnell Beiderlinden bestellt werden. Die Stimmung war anscheinend sehr gut, die Reden schwungvoll. Großpapa redete sehr fein auf den Konvent der Kapuziner und Pater Felix, der wie ein Kind mit großer Freude das Fest mit feierte, dankte vergnügt. Ich weiß nicht mehr, was alles noch geredet wurde. Gegen Ende der Mahlzeit gingen Carl und ich fort und zogen uns um. In der Droschke mit den Silberlaternen fuhren wir nach Nobiskrug, dem von Carl erwählten Ziel unserer Hochzeitsreise. Auf der Warendorfstr. flog dem alten Brüser der Kutscherzylinder vom Kopf. Er musste absteigen und ihn wiedersuchen. Ich heulte in mich hinein und Carl versuchte mich zu trösten, was ihm auch ganz gut gelang.

Dr. Jutta Schlia-Zimmermann:

Die Marienburg am Domplatz in Fritzlar ist noch gut erhalten. Sie war Wohnsitz der Verwandten (Fam. Dietrich). Oma beschreibt auf S. 8, wie sie in Fritzlar sich allein den Weg zur Marienburg suchte.

Seit der Ankunft in Nobiskrug wird die Reise eigentlich etwas komisch. Es gab z. Bsp. zum Abendbrot Brotsuppe und Kartoffelpfannkuchen mit Kartoffelsalat. Das wollte uns gar nicht schmecken. Unser Zimmer war voll Rauch, der Ofen zog gar nicht. Ich weiß nicht, ob er überhaupt ein Rohr hatte. Man roch, wenn man eine Zeitlang in der Stube war, wie ein geräucherter Schinken. Abends wurde bis tief in die Nacht hinein Klavier gespielt und getanzt in den Wirtschaftsräumen. Dann kamen Soldatenräte in großen Autos und tranken Sekt. An einem Nachmittag machten wir eine Wallfahrt nach Teltge, wie ich es im Kriege gelobt hatte. Am Morgen des 6. Jan., Hl. Dreikönige sausten wir mit dem Frühzuge nach Münster. Am Tage zuvor war Sonntag und am Nachmittage hatten uns Pia, Franz, Töne, Lilli, Fritz und Carl Schäfer besucht. Am 6. hatten wir genug. Die Rechnung war niedrig. Ein Russe brachte  uns den Koffer zur Station Jägerhaus. In Münster gingen wir erst in die Messe und dann nach Haus. Wie gut schmeckten uns im warmen gemütlichen Eßzimmer Kakao und Zwiebäcke! Nachmittags meldeten wir uns im Wahlbüro ab, damit wir in Fritzlar wählen könnten und gingen gegen Abend nach Schultens zur Schulstr., wo Mutters Geburtstag gefeiert wurde. Die Nacht blieben wir dort. Morgens gabs kurzen, schweren Abschied auf der Neuplatzstr. und dann fuhren wir mit Fritz bis Paderborn, wo er noch auf der Fliegerschule beschäftigt war. In einem alten, mit verstaubter Pracht ausgestatteten Hotel aßen wir sehr teuer zu Abend und dann noch auf unserm Zimmer aus Mutters Futterkiste. Am nächsten Morgen um 10 Uhr gings weiter. Abend um dieselbe Zeit langten wir in der Marienburg hier in Fritzlar an.

Fritzlar, 23. Mai 20 - Pfingstsonntag

Dr. Heinrich Bunsmann - Über seinen Tod

Wenn ich den gedruckten Totenzettel sehe, dann kann ich es eher glauben, daß unser lieber guter Vater gestorben ist. Vor mir steht auf dem Tisch sein Bild, das schöne ernste Gesicht, das mir so unendlich viel zu sagen hat.

 

Ich will heute über Vaters letzte Tage berichten; doch muß ich mich kurz fassen, damit der Schmerz mich nicht zu sehr erfasst. Aufregungen, deren ich sowieso letzthin genug gehabt habe, können dem Kinde schaden.

 

Es war Ende April, gerade 1 Woche vor Vaters Todestag, als morgens hier eine Karte anlangte, die von einer Grippeerkrankung Vaters sprach. Sie war möglichst harmlos abgefasst, und doch hatte ich gleich das Gefühl nahenden Unheils und mußte weinen. Nach einer Viertelstunde kam das Telegramm: Vater an Lungenentzündung erkrankt. Kommen erwünscht. – Der Zug nach Kassel war längst fort. Sonntags fuhren keine Züge. Wir hätten erst am folgenden Montag fahren können, wenn Onkel Edmund und Tante Maria uns nicht im Auto bis Marburg gebracht hätten, wo wir den Zug noch erreichten.

 

Die Fahrt war schrecklich. Zu unserer größten Freude aber trafen wir Vater bei leichter Besserung an. Der vorhergehende Tag ( Freitag) war schlecht gewesen. Auf seinen eigenen Wunsch hatte Vater aus Pater Felix Hand die Hl. Wegzehrung erhalten und seine Kommunion für Hermann Dieckmanns Rückkehr zum Glauben aufgeopfert. Wir durften Vater am Samstag noch nicht sehen. Sonntagmorgen rief Mutter uns, nachdem sie ihn kurz vorbereitet hatte, an sein Lager. Ein schnelles Erschrecken und Erbleichen flog trotzdem über sein schmal gewordenes liebes Gesicht, als er mich sah. Da habe ich ihm zum letzten Mal im Leben einen Kuß gegeben. Vater lag seit dem Dienstag zu Bett. Am Montag hat er noch mit hohem Fieber einen Besuch beim Müller Deipenbrok in Ropel gemacht. Wie August, der Chauffeur, uns nachträglich erzählte, hat er das Auto mitten auf der Landstraße einmal halten lassen. Er konnte es vor Fieber und Herzklopfen nicht mehr darin aushalten und ist draußen im Wind auf und ab gegangen. „sagen Sie zu Hause nichts davon“ hat er gesagt. Und August hat es natürlich aus Gehorsam verschwiegen. Dr. Kampschulte, ein junger Arzt, der im Kriege Vaters Assistent im Lazarett war und zufällig in Münster weilte, war dann der Vertreter. Behandelt worden ist Vater von Dr. Birkenbach, einem tüchtigen Spezialisten. Aber auch seine Freunde kamen anfangs häufig. Später als es schlimmer wurde begnügte man sich mit mündlichen und telefonischen Anfragen, die wir Mühe hatten, alle zu beantworten.

 

Am Sonntag durfte ich noch öfter bei Vater sein. Ich erzählte ihm von Fritzlar und von dem Putsch im Ruhrrevier, der ihn sehr interessierte. „Was macht die Politik?“ fragte er anfangs noch häufig! Am Montag kam Pia mit der kleinen 3 Wochen alten Lieselotte. Pia hat Vater nicht mehr sehen dürfen. Dem kranken Herzen, das durch die maßlosen Anstrengungen der letzten Jahre abgesetzt war, durfte man eine solche Anstrengung jetzt nicht mehr zumuten. Pia hat mir sehr leid getan; aber sie hat es mit großer Geduld getragen. Wir hatten immer noch Hoffnung. Dienstag fuhr Carl wieder nach Fritzlar, weil die Arbeit dringend rief. Er kam aber wegen der Unruhen nur bis Hamm. Mittwoch morgen fuhr er wieder fort und erreichte glücklich Fritzlar.

 

Ich durfte nun Vater abwechselnd alle 4 Stunden mit Mutter pflegen. Die Schwester war zwar auch immer da, aber er hatte zu uns gesagt: „Einer von Euch muß immer bei mir bleiben“. So saßen wir denn immer bei ihm; oft auch zusammen. Er hielt unsere Hände, wir wischten ihm den Schweiß ab, richteten ihn auf, gaben ihm zu trinken und versuchten alles, ihm das Leiden zu erleichtern. Das Atmen wurde ihm furchtbar schwer.

 

Am schlimmsten waren immer die Mittagsstunden. Dann mußten die Fenster weit geöffnet werden und wir mußten seine erhobenen Arme stützen, damit er Luft bekommen könnte. Trotz seiner Schmerzen fragte er immer nach, wie es uns ginge, drückte uns die Hände, legte den Arm um uns und war um alles besorgt.

 

Am Dienstag Nachmittag wünschte er mich allein zu sprechen. Ich mußte den Schlüssel zu seinem Schreibtisch holen, und einen Brief an mich sowie einige Fotografien heraus nehmen. Der Brief war im Nov. vorigen Jahres geschrieben aber nicht abgeschickt worden, weil Vater mittlerweile, wie auf dem Umschlag stand, von meinem Zustand erfahren hatte. Er ist verbrannt worden. Als ich es Vater mitteilte war er beruhigt. Er sagte mir unter anderem: seitdem Pia als Erste und besonders Du als Zweite weggegangen sind ist eine große Lücke entstanden. „Da habe ich durch verdoppelte Arbeit mich betäuben wollen -, Mutter ist doch viel besser gewesen als ich gedacht habe“

 

„Ist Carl immer noch so gut zu Dir?“ Darauf antwortete ich: „Ja, Vater, er könnte gar nicht besser sein“, worauf er sagte: „ Das ist ein großes Glück für Dich“. Oft empfahl er Mutter und mir die Jüngeren an, indem er sprach: „Sorgt für die Kleinen!“ oder „Wo ist Franz? Ist er auch immer unter Aufsicht? Daß er nur nicht in schlechte Umgebung kommt!“ Wir haben ihn immer beruhigt und gesagt, daß wir für alles sorgen wollten.

 

Oft war er noch ganz witzig und brachte uns und die Schwester zum Lachen. Wenn er seine Knie hochgezogen hatte, so meinte er, in den Falten der darüber liegenden Steppdecke ein grinsendes Judengesicht zu sehen. Als überzeugter Antisemit packte er in heiligem Zorn die Fratze mit den noch immer kräftigen Händen. „Du hast immer die richtige „Kältemischung“ meinte er, meine Hand haltend einmal. Am Gründonnerstag Mittag betete er laut und deutlich:

„Liebster süßester Heiland, wenn Du weißt, daß mein Leben unnütz ist und daß ich nicht mehr auf Erden wandeln soll, so nimm mich doch bald zu Dir.“

 

Ein ander Mal, als er auch große Schmerzen hatte: “Gib mir etwas gegen die Schmerzen, damit es eher zu Ende geht; aber das darf ich als Katholik ja gar nicht sagen.“

 

Seinem Bett gegenüber hing das große schöne Kruzifix. Es war sein Trost und Halt. Noch sehe ich seine Augen mit rührender Hingebung und dann wieder wie beschwörend aran hängen. Einmal zeigte er darauf mit den Worten: „Das müsst ihr immer in Ehren halten.“

 

Je näher der Karfreitag kam, desto öfter fragte er danach. Ich glaube er dachte, es wäre sein Todestag. Beinah ist  es ja auch so  gewesen. Jedenfalls ist es der Tag seines Todes leider gewesen. Ich habe ihm den Karfreitag verschwiegen und gesagt, es sei schon Karsamstag, was er auch glaubte. Auch die Mittagsstunden gegen 3 Uhr, als unser Herr am Kreuze starb, wollte er immer genau wissen. Manchmal, besonders nach beruhigenden Einspritzungen träumte er und sprach ruhig vor sich hin. So sagte er, wohl in Erinnerung an die Fritzlarer Reise im vorigen August: „das schöne alte Fritzlar! Hat so viele gute und schlechte Tage gesehen“. Mitten in der Nacht setzte er sich einmal aufrecht und sprach im Befehlston: „Nie eine Krankheit verschleppen! Immer gleich zum Arzt gehen“. Dann grüßte er einmal militärisch und winkte freundlich den Gegengruß ab. Das schreckliche harte Röcheln, das immer mehr zunahm, störte ihn sehr und machte ihn aufgeregt. Als es ihm zu arg wurde rief er, auf seinen Hals zeigend, im militärischen Ton: „Jetzt Ruhe!“ – Aber es hörte und hörte nicht auf. „Was für ein Wort muß ich nur immer sagen?“ fragte er mich dann. Das Wort hieß wohl „Leiden, Leiden, Leiden“. – „Jetzt kann ich sehen, was dieser arme Umbach gelitten hat,“ meinte er. Umbach war ein Patient von Vater, der auch Grippe hatte. Er ist aber wieder durch gekommen.

 

So kam der Karfreitag heran. Geweint habe ich nicht mehr in den letzten Tagen. Es war mir nach einem Blick auf das Kreuz sogar oft möglich, Vater an zu lachen. Er fühlte den Tod kommen. Am Morgen mussten wir ihn schön machen und kämmen. Er half selbst dabei, trocknete sich ab, kämmte seinen Bart und ordnete alles an. Dann mußten wir ihm ein reines Hemd anziehen. Vater war nicht nur im Leben sondern auch noch in den letzten Stunden von peinlichster Sauberkeit und Ordnung. Mit Pater Felix, den ich geholt hatte, hat er dann noch morgens gebetet. Die Herzschwäche wurde immer größer. Man gab ihm Linderungsmittel, die ihm die schweren Nachmittagsstunden erträglich machten. Beim Einnehmen sagte er lächelnd zur Schwester, indem er auf mich zeigte: „Das gönnt sie mir nicht. Das Kind hat immer so gern Medizin genommen.“  Dann bestimmte er noch allerlei kleinere Angelegenheiten für den Fall seines Todes, z. Bsp. sollte Dr. Beckmann sein letztes Benzol haben u. ähnliches. Als er sich wohler fühlte, machte er auch wieder Zukunftspläne und Scherze. Er sah links und rechts vom Kreuz vier Fratzen, die sich bewegten, und als ich auf sein Befragen sagte, daß ich sie auch sähe, meinte er lächelnd zu den anderen: „Komisch daß Berti sie auch sieht“, und zu mir darauf: Weißt du Berti, es ist aber doch nur Täuschung. Es kommt von der Tapete.“ –

 

Dann sah er ein Stachelschwein. Es ängstigte ihn, und ich riet ihm die Augen zu schließen. Er tat es, aber es war noch da, als er  sie wieder öffnete. Da bin ich hingegangen und habe gesagt, ich wollte es totmachen. Ich brauchte nur einige Male die Gardine zu bewegen, da war er zufrieden.

 

Sein Blick war fast immer auf das Kreuz gerichtet: „Der Heiland blutet immer mehr, seht ihr das nicht?“ sprach er Freitagnachmittag zur Schwester und mir.

 

Er nahm noch allerlei zu sich und führte selbst den Löffel zu Munde. Unseretwegen hat er sich immer noch zur Nahrungsaufnahme gezwungen, wenn es ihm auch fast unmöglich war. Am Spätnachmittag kam kalter Schweiß, die Hände wurden ganz kalt und naß. „Das ist der Todesschweiß. Ich kenne das“, sagte er mir. Mutter und ich wischten ihm mit einem weichen Tuch immer wieder die Tropfen von Gesicht und Händen. Er fühlte die Kälte kommen und bat, den Ofen anzuzünden. Ich sehe noch Mutter in Jammer und Elend vor dem alten runden Ofen knien und mit Torf ein helles Feuer anzünden. Der Tod, der schon so nahe war, ging noch einmal vorüber. Langsam wurden Vaters Hände wieder wärmer und es war, als wenn seine alte Kraft noch einmal sich zeigen wollte. Er wollte nicht mehr im Bett bleiben. Wir mußten seinen Anzug holen und ihn anziehen. Er setzte sich auf den Bettrand gestützt auf uns, ganz erschöpft von der Anstrengung. Als er wieder ins Bett gehoben wurde, nach dem wir ihm den Anzug wieder ausgezogen hatten, mußte ich an die Grablegung Christi denken. Zweimal mußten wir ihn noch aus dem Bett heraushelfen und sogar einen Sessel holen, auf den wir ihn setzten. Das letzte Mal war es schon tief in der Nacht. Ich hatte Mutter und die anderen, die sich etwas gelegt hatten, herangeholt. Auch die beiden Dienstboten waren jetzt im Zimmer. Ob Vater Pia noch erkannt hat, weiß ich nicht. Er sah oft aufmerksam nach der Richtung, wo sie stand. August hielt seine Füße. Wir alle suchten  ihm zu helfen, ihn zu stützen und zu wärmen. Dann wurde er schwächer, und die Augen begannen zu brechen. Mutter sagte: „Jetzt geht es dir immer besser, Vater!“ – „Immer besser“, wiederholte Vater. Das letzte, was er deutlich sprach, fast rief, war „Franz!“ Da kam Franz an seine Seite und hielt seine Rechte lange fest und links war Mutter. Die Schwester begann mit den Sterbegebeten, und die Sterbekerze wurde angezündet. Vater hielt den Rosenkranz umklammert, den ihm Pater Omnipotens nach der schweren Krankheit geschenkt hatte und an dem er im letzten Jahr jeden Abend ein Gesetz gebetet hatte.

 

Das Röcheln wurde stärker. Dann kam es nur noch stoßweise. Schließlich war der letzte Atemzug getan.

Ich muß ganz kurz berichten. Die Erinnerung regt mich furchtbar auf.

 

Die Schwestern und die Männer machten Vater dann zurecht. Als wir ihn dann wiedersahen, lag er schön und friedlich wie ein toter Hl. Franziskus in seinem Bett. Als ich im Morgengrauen allein bei ihm war, habe ich immer gerufen: „Väterchen, Väterchen“ und gedacht, er würde wieder wach. Es blieb so unheimlich still. Seine Hände blieben lange warm. Ich habe sie noch oft in den 3 Tg. mit den meinigen bedeckt und einmal auch noch mit großer Ehrfurcht das liebe Gesicht geküßt. Aufgebahrt wurde Vater im Wartezimmer, aber ohne viele schwarze Tücher und Verdunklungen. Pia hatte ihn wunderschön geschmückt mit weißen Blüten von den Birnbäumen, die er selbst gepflanzt und unter denen er so manche Stunde ruhend, lesend und in froher Runde zugebracht hatte. Zu seinen Häupten war ein in Silber getriebenes altes Muttergottesschild der 24er Bruderschaft, der Vater und Mutter angehörten, aufgestellt. Im Schein der dicken gelben Wachskerzen sah es inmitten des Grüns und der Blumen wunderschön aus. Ich glaube, Vater hätte Spaß gehabt an dem alten schönen Schild.

Nachruf der münsterschen Ärzteschaft

Heute morgen verschied unerwartet unser langjähriges Mitglied

Herr San.-Rat Dr. Heinr. Bunsmann.

Eine tückische Lungenentzündung hat ihn inmitten seiner Tätigkeit im besten Mannesalter dahingerafft.

 

Der Verein verliert in ihm ein liebes, standestreues Mitglied, dessen eifrige Mitarbeit, gesundes Urteil er oft entbehren wird. Ausgerüstet mit großem ärztlichen Wissen, reicher Erfahrung, unermüdlich im Berufe, war er seinen Kranken ein hervorragender Berater und Helfer. Seinen Standesgenossen war er ein lieber Kollege von edler, vornehmer Gesinnung.

 

Sein Andenken wird fortleben  bei allen, besonders aber bei denen, die jahrelang mit ihm vereint an dem Wohle unseres Standes gearbeitet haben.

 

Der Vorstand d. Vereins der Ärzte Münster

San.-Rat Dr.  Plange

Vorsitzender

Nachruf Tageszeitung

Sanitätsrat Dr. Bunsmann +

In der Frühe des Karsamstag verstarb nach kurzem, schwerem Leiden der Sanitätsrat Dr. Heinrich Bunsmann. Der Verstorbene war ein gesuchter und beliebter Arzt. Als Sohn der Stadt Münster und der Überwasser Gemeinde fand er, als er sich vor drei Jahrzehnten vorm Neutor niederließ, bald eine große Praxis. Immer war er auf dem Posten und die weitesten Wege in die Umgebung Münsters trat er ohne Zaudern an, wenn ein Kranker seine Hülfe begehrte. Jetzt hat ihn selbst der Tod, den er so oft vom Lager seiner Patienten verscheucht hatte, im besten Mannesalter dahin gerafft, mitten aus seiner Tätigkeit heraus, die er bis zur letzten Stunde, da ihn eine tückische Krankheit aufs Krankenlager warf, ausübte. Seine zahlreichen Patienten, die in ihm nicht nur den Arzt, sondern auch den teilnehmenden, mitfühlenden Menschen verehrten, werden ihm übers Grab hinaus ein

ehrendes Andenken bewahren. Er ruhe in Frieden.

Grab auf dem Zentralfriedhof
Grab auf dem Zentralfriedhof

Redaktionelle Anmerkung

Es ist naheliegend, dass Dr. Heinrich Bunsmann an der damals grassierenden Spansichen Grippe erkrankt und verstorben ist. Zum Ende des 1. Weltkrieges wird die Welt von der Spanischen Grippe heimgesucht. Die Pandemie erreicht Münster. Münsters Stadtarchivar Dr. Eduard Schulte schreibt in seiner Chronik:

11. Oktober 1918

Die 'Spanische Krankheit' trat, nachdem sie im Sommer bereits geherrscht hatte, im Herbst so heftig und allgemein auf, dass der größte Teil der Bürgerschaft mehr oder minder stark grippekrank ist. Die Hospitäler sind überfüllt. Täglich müssen 8-10 Kranke am Clemenshospital abgewiesen werden. Zahlreich sind Lungenentzündungen, häufig der Tod die Folge der Grippe.


Kindheitserinnerungen

Fritzlar, 18.4.1930

Erinnerungen an die Erstkommunion in Münster

Mein erster Kommuniontag am 8. April 1904 war ein etwas geräuschvoller Festtag. Ich trug ein steifes wollenes Kaschmirkleid, das bis auf die blanken schwarzen Stiefelspitzen reichte. Dazu ein sogenanntes Köllchen, eine Art kleine Pelerine und ein Mützchen von Tüll, Spitze und Seidenbändern, worin hinten der Zopf hing, der zum ersten Male aufgesteckt wurde. Alles war sehr solide und teuer und natürlich ganz in weiß. Das Hemd und die Hosen, die bis weit über die Knie gingen, waren mit sehr feinen, dicken Spitzen und Durchsätzen verziert. Ein Unterrock war aus Wolle mit Languetten und darüber wieder ein ganz schwerer und langer mit Stickerei. Selbstverständlich war das Kleid mit Stehbart und langen Ärmeln versehen und mit einer steifen Seidengarnierung. Ich trug zum ersten Mal ein Korsett, was häßlich drückte. Mit Mutter allein ging ich durch die noch menschenleeren Straßen zum Dom, wobei meine Schuhe laut klapperten.

 

Der lange Rock schlug um meine Beine. Alles lenkte mich stark ab. Ich empfand auch kein besonderes Glücksgefühl bei der hl. Feier, war wie benommen von all den neuen Dingen. Als wir aus der Kirche traten, Vater und die Geschwister waren mittlerweile auch gekommen, standen am Portal viele Menschen und gratulierten den herauskommenden Kindern. Die kleinen zum 1. Mal kommunizierenden Jungens waren richtige Gegenstücke zu uns: schwarze Anzüge wie Herren, mit langen Hosen, Krawatten und steifen Hüten. Manchmal vergaßen sie sich und liefen oder hüpften. Dann sahen sie aus wie Teufelchen. - Am Kirchenportal waren auch Großmama und Großpapa. Mutter und ich stiegen in unser elegantes Coupe, das dort hielt. Die treue blanke Zilla guckte mich verdutzt an, weil ich sonst wohl nie so feierlich war. Der Kutscher war in seiner besten Livree. Unsere Pferde, Wagen, Kutscher u.s.w. konnten sich sehen lassen. Wir hatten wohl fast die besten der Stadt. Onkel Franz in Aachen hatte ja auch eine Wagenfabrik, und Großpapa Bunsmann hatte eine gehabt. Großmama Ebert, die ziemlich herrschsüchtig war, war anscheinend beleidigt, daß sie nicht mit mir im Coupee nach Hause fuhr. Sie mußte mit den anderen gehen.

 

Rauschend von schwarzer Seide setzte sie sich mit den anderen in Bewegung. Ich war ihr ältestes Enkelkind, und sie versuchte immer, sich mit mir zu beschäftigen, doch sind wir uns sehr fremd geblieben. Sie war eine geborene Krüger und aus sehr gutem, wohlhabenden Hause. Ihre Mutter war noch eine rechte Biedermeier Dame, die wie meine Mutter erzählte, noch steif und gerade auf dem Kanapee saß, das gestickte Perlenkissen im Rücken und neben sich den Klingelzug an der Tür. Sie ist, soviel ich weiß, eine Melchers gewesen, eine Verwandte vom Kardinal Melchers.

 

Als wir zu Hause angekommen waren und uns an die reich geschmückte Familien = Frühstückstafel setzen wollten, nahm mich Großmama zur Seite und sagte mir ins Ohr: „Berti, bete um Einigkeit in der Familie!“ - Ich war sehr erstaunt, da ich keine Ahnung davon hatte, ob Uneinigkeit in der Familie sei und sagte erschreckt : „Ja!“ - Als ich später Vater davon erzählte, brummte er etwas in seinen Bart, das sich anhörte wie „Schafskopp“.

 

Es schloß sich an die Frühstückstafel ein unendlich langes Defilee von Gratulanten. Ich bekam viel Blumen, sieben Bilder, eine goldene Uhr mit Kette, 2 Serviettenringe mit Monogramm, 4 goldene Ringe, Halsketten, Anhänger, Ledertäschchen, Rosenkränze von Perlmutter und Silber, viele Gebetbücher, fromme Bücher u.s.w. Wir gingen zum Bischof, die Mädchen und die schwarzen Teufelchen und bekamen ein Bild, zu verschiedenen Domherren, auch zum Dompropst Parmet, Vaters Onkel, zu unserem alten Religionslehrer Schuhmacher, zu den Lehrerinnen Tiemann und Erdland. Dann kam die Mittagstafel, eine Andacht im Dom und Kaffeetisch. Danach ging man in den Garten, der hübsch aussah im ersten Grün und in dem nach dem Stall zu eine Reihe Tulpen und Hyazinthen blühten. Der Springbrunnen plätscherte, meine Geschwister spielten Kriegen. Auf einmal vergaß ich meine Würde, raffte meine Schlappröcke zusammen und sprang wie sie um den Rasenplatz herum. Bis mir dann die Ungehörigkeit solchen Tuns einfiel.

 

Wirkliche religiöse Erhebung hatte ich erst im folgenden Jahre, anläßlich Pias erster Heiliger Kommunion. Tönes Fest fand in Haste im Ursulinenkloster statt, wohin sie kam, weil sie sitzen blieb, und drei Jahre zubrachte. Sie trug schon einen Schleier. Lilli hatte ihre Feier in der Töchterschule. Ich glaube, Carl und ich hatten uns damals gerade verlobt.

Auszug aus dem 3. Tagebuch, 9. März 1928

Professor Hermann Landois, Frl. Pollak und Affe Lehmann

Berti Schulte-Wintrop, geb. Bunsmann, Führerscheinfoto aus 1930
Berti Schulte-Wintrop, geb. Bunsmann, Führerscheinfoto aus 1930

Wir lesen jetzt „ Professor de Iselmott" von Paulheinz Wantzen. Es sind Anekdoten vom Professor Landois, den ich als Kind noch mitgemacht habe. Apotheker Salzmann, auch ein Münsteraner In FritzJar, hat mir das Buch geliehen. Ebenso wie der Roman in Velhagen und Klasing von Klara Ratzka so ist mir auch dieses Buch sehr interessant. Der Nikolaus Obfolger, Landois Faktotum, war Pias (die jüngere Schwester von Berti) und mein Freund. Vater hatte ihn wieder besser gemacht, als er mal totkrank war und ihm seine Affen-, Hirsch-, Bären- u.s.w. Bisse zugenäht und geheilt. Diese Dankbarkeit übertrug er auch auf uns Bunsmanns Kinder. Den Wärter Wenzel und den Elefantenwärter Bär (Beer) kannten wir auch gut. Sie hatten zusammen furchtbar viele Kinder, und Vater mußte oft in die kleinen Häuschen, die zwischen den Käfigen standen.

Vater hatte als Pauliner bei ihm (Landois) gebeichtet.

 

Ich habe Landois oft aus der Bierpulle trinken sehen, ebenso Frl. Pollack. Wir mußten nit noch vielen anderen Kindern auf sein Geheiß feierlich die Leiche von „Lehmann", der am Suff gestorben war, aus seinem Eckkäfig abholen. Es war ein grotesker Zug mit den vielen Kindern, die alle soviel Spaß an ihm gehabt hatten, wenn er betrunken war.

 

Mit Phlipp, der so gemein frech sein konnte, auch trank und uns abwarf, wann er nur konnte, haben wir, besonders Pia und ich, uns auch herum geschlagen.

Das Familiengrab
Das Familiengrab

Quellen

Text und Abbildungen: Dr. Jutta Schlia-Zimmermann

Redaktion: Henning Stoffers