die Jahre von 1918 bis 1933 waren in unserer Stadt turbulent und ereignisreich. Es ist die Zeit der Weimarer Republik. Über dieses Thema hielt ich vor kurzem im Stadtarchiv einen Vortrag, den ich nun in drei Teilen als Webversion veröffentliche.
Inhalt Teil 1: Soldaten kehren aus dem Krieg zurück, eine stürmische Inflation hält Einzug, eine große Arbeitslosigkeit herrscht. 1933 folgt die Naziherrschaft. Der 2. Teil handelt von der immensen Bautätigkeit dieser Jahre, der 3. Teil von bemerkenswerten Geschehnissen.
Anhand von Erläuterungen, Fotos und Dokumenten lasse ich diese Zeit Revue passieren.
Ihr Henning Stoffers
Das Kriegsende
Die Hyperinflation
Die Blütezeit der Kinos
Großereignisse
Massenkundgebung 1931
Die Eidechsen im Jungborn Münster
Oberbürgermeister Dr. Georg Sperlich
Die Zeitenwende - Die Machtergreifung
Münster gehört im Jahre 1914 mit 13.000 Soldaten zu den großen Garnisionsstädten Deutschlands.
Große Begeisterung herrscht in der münsterschen Bevölkerung, als die Soldaten am 1.8.1914 in den Krieg ziehen. In den Gewehrläufen stecken Blumen. Ein Soldat des 13. Infanterie-Regiments trägt ein Schild mit der Aufschrift ,Bald winken die 13er vom Eif(f)elturm'. Man glaubt an einen kurzen, siegreichen Krieg.
Der Krieg ist vorbei. Die Verluste an Menschenleben sind immens. Zum Ausgleich der gefallenen und verwundeten Soldaten des 13er Infanterie-Regiments werden immer wieder neue Männer an die Front geschickt. Allein mehr als 4.200 Tote verzeichnet dieses Regiment. Ungezählt sind die verwundeten und traumatisierten Soldaten.
Die Bevölkerung leidet in diesen Jahren erheblich unter Entbehrungen und unter der Lebensmittelknappheit. Hinzu kommt eine Pandemie, die Spanische Grippe, die auch in Münster grassiert und für viele tödlich endet.
Chronikeinträge des Stadtarchivars Dr. Eduard Schulte: 11. Oktober 1918 Die 'Spanische Krankheit' trat, nachdem sie im Sommer bereits geherrscht hatte, im Herbst so heftig und allgemein auf, daß der größte Teil der Bürgerschaft mehr oder minder stark grippekrank ist. Die Hospitäler sind überfüllt. Täglich müssen 8-10 Kranke am Clemenshospital abgewiesen werden. Zahlreich sind Lungenentzündungen, häufig der Tod die Folge der Grippe.
20. Oktober 1918 21. Oktober 1918 Die Zahl der an Grippe erkrankten Schulkinder beträgt über 3.000. Das katholische Lyzeum mußte bis auf weiteres geschlossen werden.
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Oberbürgermeister Dieckmann empfängt am 8.12.1918 die zurückkehrenden Soldaten. Tiefernste Gesichter hat der Fotograf festgehalten. Man ist sich des verlorenen Krieges bewusst.
Die Reichsregierung kann die Reparationsleistungen aus dem Versailler Vertrag nicht mehr leisten. Die Inflation wird zur Hyperinflation. Ihren Höhepunkt erreicht sie Ende 1923.
Die Geldruckmaschinen laufen auf Hochtouren. Die fast wertlosen Scheine werden in Schubkarren und Wäschekörben transportiert.
Im Mai 1923 beträgt der Kilo-Brotpreis knapp 500 Mark. Zwei Monate später steigt er auf 2.200 Mark, Anfang Oktober auf 14 Millionen. Im November - der Höhepunkt der Inflation ist erreicht - sind es fast 6 Milliarden Mark.
Die Geschäfte geben mangels Wechselgeld Gutscheine heraus.
Ausgezahlter Lohn muss schnellstens ausgegeben werden, da es bereits wenig später deutlich weniger wert ist. Viele Menschen stehen vor dem Ruin, werden arbeitslos oder verlieren ihre Existenzgrundlage.
Der Abo-Preis des Münsterischen Anzeigers beträgt für eine(!) Woche zehn Milliarden Mark. Der Preis wird wochenweise neu festgesetzt, um mit der Inflation mithalten zu können.
Es gibt Beihilfen zum Kauf von Nahrungsmitteln, Kohlen und Kleidern. Öffentliche Speisungen versuchen die Not zu lindern. Ein Großteil der Menschen, insbesondere Rentner, verarmen. Spargroschen verlieren in kürzester Zeit ihren Wert. Bislang mündelsichere Geldanlagen sind nicht mehr als das Papier wert.
Münster hat bereits seit 1906 kleinere Kinos und das größere Capitol in der Ludgeristraße.
In den 20er Jahren beginnt die Zeit der ,Großkinos'. Das ,Roland-Theater' - es hieß zeitweise ,Emelka' - entsteht 1920 an der Bahnhofstraße. Nur zwei Jahre später baut der Kinopionier Christian Winter nahe des Servatiiplatzes die ,Schauburg' mit mehr als 800 Plätzen. Das ,Apollo-Theater' mit mehr als 900 Plätzen entsteht 1937.
Große Stummfilmstars kommen zu Premieren auch nach Münster, wie zum Beispiel Marcella Albani. Die Autogrammkarten werden für die Besuche der örtlichen Kinos jeweils extra gedruckt.
Nach der großen Zeit des deutschen Stummfilms hält 1929 der Tonfilm triumphalen Einzug. Am 1.11.1929 wird in Münster der amerikanische Tonfilm ,Der singende Narr' uraufgeführt. Münsters Bevölkerung ist begeistert. Die Filmmusik wird ein Gassenhauer.
Einige Monate später kommt der Tonfilm ,Die Nacht gehört uns' mit Hans Albers im ,Roland-Theater' zur Aufführung.
Gleich drei Großereignisse finden 1930 in Münster statt: Der Flugtag auf Loddenheide, der Feuerwehrtag und der Katholikentag.
Allein mehr als 100.000 Menschen nehmen am Katholikentag teil. Bei aller äußerer Harmonie brummelt es hinter den Fassaden unüberhörbar. Die wirtschaftliche und politische Krise Deutschlands spiegelt sich in den kontroversen Diskussionen der Teilnehmer wider. Man spricht sich letztlich gegen die Diskriminierung von Rassen und gegen Klassenhass aus, kritisiert aber auch das Formale der vorherrschenden Demokratie
Der Katholikentag fand nach Jahren extremer Inflation und in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit statt. Am Horizont war schon das Wetterleuchten der kommenden Herrschaft der Nazis zu erahnen. - Aber all dies soll zwei Jahre später unbedeutend sein und der Vergangenheit angehören.
Im Schützenhof an der Hammer Straße findet eine Großveranstaltung der NSDAP statt. Wir sehen vollbesetzte Reihen und ein gutbürgerliches, erwartungsvolles Publikum.
Redner sind u.a. der Reichsgraf Stanislaus von Nayhauß-Cormons und der Reichstagsabgeordnete Dr. Alfred Meyer, der spätere Gauleiter des Gaus Westfalen-Nord in Münster. Er ist Teilnehmer der berüchtigten Wannseekonferenz, in der es um die Vernichtung der Juden geht.
Stanislaus von Nayhaus-Cormons stellte sich kurz darauf gegen die NSDAP. Im Sommer 1933 wird er ermordet aufgefunden.
Georg Sperlich wird 1877 in Beuthen (Schlesien) geboren. Er studiert Jura und wird 1909 Kämmerer der Stadt Münster, 1920 Wahl zum Oberbürgermeister. 1932 wird er nicht wiedergewählt, obwohl er sich um das Amt beworben hat. Gewählt wird als Nachfolger Karl Zuhorn, der 1933 von den Nazis abgesetzt wird.
In Sperlichs Amtszeit fallen die schweren Jahre der Inflation, der Arbeitslosigkeit und des aufkommenden Nationalsozialismus, aber auch die Jahre des Wachstums und einer großen Bautätigkeit. Seine Amtsführung und sein Führungsstil sind nicht unumstritten.
Sperlich stirbt 1941 in Münster. Eine Straße wird nach ihm benannt. Sie führt von der Weseler Straße direkt zum Aasee.
Vor einigen Jahren erwarb ich ein liebevoll gestaltetes Fotoalbum mit handschriftlichen Einträgen. Bei näherer Betrachtung wurde deutlich, dass es sich um ein besonderes, berührendes Zeitdokument handel. Über das Schicksal der Jungen ist mir nichts bekannt.
In Münster bildet sich 1930 ,Das Fähnlein der Eidechsen im Jungborn Münster', Teil einer katholischen Jugendorganisation. Die Jugendbewegung ,Jungborn' wird mit Karl Reisner (Priester, KZ-Häftling) in Verbindung gebracht.
Die Jungen aus Münster, sie sind 10-15 Jahre alt, machen Ausflüge in das nähere Münsterland, baden in der Ems bei Einen, zelten in der freien Natur und singen begleitet von Klampfen. Sie erleben die Gemeinschaft.
Die Aufzeichnungen beschreiben die unternommenen Ausflüge. Für jede Unternehmung wird ein anderer Protokollant bestimmt, und so sind die Handschriften auch unterschiedlich.
Am 21. Juni 1933 - zur Sonnenwende - enden die Eintragungen abrupt. Die obige Abbildung zeigt den letzten Eintrag. Danach folgen nur weiße, unbeschriebene Blätter. Was zur Auflösung dieser Jugendgruppe führte, ist konkret nicht bekannt. Naheliegend dürfte es das Nazi-Regime gewesen sein, das katholische Jugendbewegungen immer mehr einschränkte.
Die Nazis erhalten 1933 die Macht in Deutschland. Sofort wird der Oberbürgermeister Karl Zuhorn abgesetzt. Ohne Wahl übernimmt Albert Hillebrand das Amt. In kürzester Zeit werden alle Funktionen mit ihren feinsten Verästelungen überpüft und neu besetzt. 12 Jahre wird das faschistische Regime herrschen...
Auszüge aus dem Einwohnerbuch des Jahres 1934 - Zum Vergrößern klicken
Tilman Pünder schrieb über das Leben und Wirken von Oberbürgermeister Georg Sperlich. Hans-Peter Boer hat hierzu freundlicherweise seine Rezension aus dem Jahre 2006 zur Veröffentlichung bereitgestellt. Mein herzlicher Dank für diesen interessanten Beitrag geht an Hans-Peter Boer.
Tilman Pünder: Georg Sperlich – Oberbürgermeister von Münster in der Weimarer Republik = Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster (Neue Folge), 23. Band, Münster 2006.
Der frühere Oberstadtdirektor von Münster, Tilman Pünder, hat sich mit einer respektablen Veröffentlichung auf das Gebiet der Geschichtswissenschaft begeben, wenn auch als Jurist und Verwaltungsfachmann nicht völlig das Feld gewechselt. Pünder untersucht in einer gewichtigen und lesenswerten Arbeit Leben und Wirken des früheren Münsterschen Oberbürgermeisters Dr. Georg Sperlich, der mehr als 20 Jahre in der örtlichen Verwaltung wirkte, davon zwischen 1920 und 1932 als ihr Chef.
Sperlich wurde 1877 in Beuthen / Schlesien geboren, studierte in Tübingen und Halle und kam im Jahre 1909 als Kämmerer nach Münster. Hier machte er sich schnell einen Namen als Finanzfachmann. Sperlich nahm zwischen 1914 und 1918 als Reserveoffizier aktiv am Ersten Weltkrieg teil, gestaltete später den Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft mit und wurde 1919 zum II. Bürgermeister, im Folgejahr dann zum Oberbürgermeister gewählt. Fasziniert von den visionären Elementen, die Sperlichs Arbeit so entscheidend geprägt haben, entfaltet Tilman Pünder minutiös alle Projekte, die Sperlich durchsetzte und z.T. bis heute Relevanz für die Bedeutung und das Bild Münsters haben.
So sah der OB der 1920er Jahre nicht nur die Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer Kommunalen Gebietsreform für Münster voraus (- verwirklicht wurde sie fast in seinem Sinne 1975!), sondern er befasste sich auch intensiv mit der Stellung und den Ausbaumöglichkeiten der Universität, sorgte sich ebenso um eine Verbesserung des innerstädtischen Verkehrswesens wie des Anschlusses der Stadt an das innerdeutsche Flugnetz (Flughafen Loddenheide). Die Rolle Münsters im Umland, seine Bedeutung als Bischofsstadt und gerade auch Verwaltungssitz für ganz Westfalen (- im Widerstreit mit Dortmund -) waren Sperlich Herzensanliegen. Verblüffend, dass er für eine Führung der Klemensstraße stritt, die Jahrzehnte später erst verwirklicht wurde, eine geradezu vorbildliche Wohnungspolitik (z.B. Wohngebiet Habichtshöhe / Grüner Grund) umsetzte und mit den Plänen für eine schon im dem 18. Jahrhundert gewollte Bebauung des Neu-Platzes / Schloss-Platzes eine Diskussion wieder belebte, die auch im vor wenigen Jahren geplanten „Westfalen-Forum“ bis heute nicht zu realisieren ist. Die Halle Münsterland und der Aasee sind wohl die beiden spektakulärsten Projekte, die Sperlich selbst verantwortete. Man stelle sich Münster heute ohne diese Einrichtungen vor! Viele Aspekte im Lebenswerk von OB Georg Sperlich können hier nur angedeutet werden.
Tilman Pünder bringt diesen Sachreichtum in einer sorgfältig durchgefeilten Gliederung, wobei er das Schwergewicht auf die Oberbürgermeisterjahre von 1919–1931 legt, diese in größere Zeiträume gliedert und darin mit thematisch orientierten, sorgfältigen konzipierten und belegten Längsschnitten arbeitet. Dabei werden die sozio-kulturellen Hintergründe der Stadt und ihre ökonomischen und fiskalpolitischen Bedingungen in den 1920er Jahren beleuchtet. Pünder hat viele, auch abgelegene Aktenbestände durchgesehen, überall frisch aus den Quellen gearbeitet und somit manches unbekannte und überraschende Element der Stadtgeschichte Münster im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ans Licht gebracht..
Rätselhaft blieb lange der Sturz des Sperlichs, der ohne großes Vorgeplänkel im Sommer 1931 überraschend nicht wiedergewählt wurde. Pünder kommt zu dem Ergebnis, dass dieser OB mit seinem Verständnis von Auftrag und Kampf nicht mehr in die Zeit passte. Ein überzeugter Demokrat war Sperlich bestimmt nicht; sein Denken und seine Handlungsmaximen waren noch vom Kaiserreich geprägt; dieser Oberbürgermeister wollte sein Tun und Lassen im hierarchischen Sinne verortet wissen, und zwar ausschließlich von der Spitze her: Er war kein „Netzwerker“, band nur selten andere Mitwirkende in seine Pläne ein, ignorierte im Angesicht von Sachfragen auch die eigene Parteien-Bindung an das Zentrum und stieß immer wieder Vertretern der Bürgerschaft durch ungeschickt vorbereitete Entscheidungen oder riskante Alleingänge vor den Kopf. Seine Provokationen, seine Streitsucht und sein gelegentlich ungesteuertes Temperament ließen diesen OB als Autokraten erscheinen. So wurde man seiner vor allem in der Mehrheitsfraktion des Zentrums herzlich überdrüssig, zumal sein Umgang mit den Haushaltsbestimmungen wie auch seine die finanziellen Bedingungen überschreitende Lebensführung immer wieder Anlass zur Kritik boten. In diesem Zusammenhang hätte der Rezensent übrigens gerne mehr über die Gegner Sperlichs erfahren; Persönlichkeiten, Motivation und Wirken dieser Männer werden in Pünders Arbeit (notgedrungen von der Quellenlage her) nur in vage angedeuteten Konturen erkennbar.
In der Bevölkerung Münsters war OB Sperlich aufgrund seiner sozial orientierten Politik übrigens beliebt, seine öffentlichen Auftritte wurden geschätzt, seine Rednergabe und seine Leutseligkeit standen in hohem Ruf. Die Tatsache, dass man diesen Mann In Münster nicht weiter beschäftigte, war somit ein reichsweit beachteter Skandal.
Sperlich wohnte nach seiner Pensionierung weiterhin in Münster und kämpfte noch jahrelang um Gehalt und Rehabilitierung. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde er als Offizier mit Heimatverwendung reaktiviert, im Dezember 1941 jedoch bei einem Verkehrsunfall so schwer verletzt, dass er nach zwei Tagen starb, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben. Unter großer öffentlicher Anteilnahme wurde er beigesetzt.
Tilman Pünders Buch besticht durch Faktenreichtum und Sachkenntnis und ist darüber hinaus ein glänzend geschriebenes Lehrbuch zur Entwicklung von Kommunalpolitik im 20. Jahrhundert am Beispiel einer einzelnen Stadt. Mit Blick auf unsere, diesbezüglich von Bedenkenträgern, Mitbestimmung, Gremienarbeit und Mehrheitsbeschaffung geprägte Gegenwart staunt man, welche enorme Rolle eine einzelne kraftvolle und mutig vorausschauende Persönlichkeit im politischen Geschäft damals spielen konnte. Heute wäre ein Georg Sperlich in der Kommunalpolitik undenkbar. Oder?
Hans-Peter Boer
Quellen
Text und Idee: Henning Stoffers
Bildmaterial: Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)